Historical Weihnachtsband 1992
sie kaum zu Gesicht, ihre Kinder noch seltener. Sie hatten unzählige weibliche Bekannte, aber keine Freundinnen. Die einzigen engeren Beziehungen unterhielten sie zu ein paar attraktiven und erfahrenen Männern, die ihre Aufgabe nur darin sahen, Damen zu Gesellschaften zu begleiten, ihre Häuser neu einzurichten und sie in schwierigen Lebenslagen zu beraten. Alles schön und gut, dachte Cornelia, aber nicht nach meinem Geschmack.
Nachdem Sophia fertig war, bedankte sich Cornelia und trat vor den großen Spiegel.
Obwohl sie das Kleid schon einmal anprobiert hatte, war sie doch überrascht, als sie sich im Spiegel sah. War sie das wirklich, dieses feminine, elegante Wesen, das auf fast schockierende Weise einer von Lucianas Heldinnen ähnelte?
Cornelia schüttelte den Kopf, daß die kastanienbraunen Locken flogen. Ganz gleich wie sie aussah, innerlich hatte sie sich nicht verändert. Sie würde zu Jonathans Party gehen, sich amüsieren und zu angemessener Stunde wieder zu Hause sein. In einigen Wochen waren ihre Ferien vorbei, und danach würde sie sich wieder an die Arbeit machen. Sie vergewisserte sich mit einem letzten Blick, daß sie nichts vergessen hatte, und verließ ihr Zimmer.
Jonathan Withers bewohnte eines der neueren Sandsteinhäuser an der Madison Avenue, nicht weit entfernt von jenem Teil der Fifth Avenue, wo die Reichen ihre palastähnlichen Villen hatten. Sein Haus war bescheidener, aber dennoch sehr groß für einen alleinstehenden Mann, der sich gern mit Büchern und einigen guten Freunden umgab. Vor einigen Jahren war
er aus seinem Haus im Geschäftsviertel der Stadt, wo er viele Jahre mit seiner Frau gelebt hatte, hierher gezogen. Da ihm dort nach ihrem Tod die Erinnerungen unerträglich geworden waren, hatte er beschlossen, neu anzufangen. Jetzt bewohnte er ein Heim, das zwar unverkennbar maskulin, aber gemütlich und einladend wirkte.
Alle Fenster waren hell erleuchtet. In der Nähe des Eingangs hielten viele Kutschen.
Das Fest schien ein voller Erfolg zu sein. Peter Lowell hatte sich verspätet, weil er in der Redaktion durch die Nachricht von einem Ausbruch aus dem Tombs Gefängnis aufgehalten worden war. Die New Yorker würden am nächsten Morgen erfahren, daß sich drei des Mordes Verdächtigte wieder unter ihnen befanden. Zweifellos würden sie es gelassen hinnehmen.
Ein Butler, der für diesen Abend engagiert worden war, öffnete Peter die Tür und half ihm aus dem Mantel. Darunter trug er einen dezenten Abendanzug, Hose und Jacke aus feinstem schwarzem Tuch und eine weiße Satinweste über einem weißen Hemd ohne die Rüschen, die andere Männer bevorzugten. Sein aus der Stirn gebürstetes schwarzes Haar war frei von Pomade. Das weiße Hemd betonte noch die Sonnenbräune in seinem Gesicht.
Während sich Peter in der Halle umschaute, bemerkte er die höchst interessierten Blicke einiger weiblicher Gäste. Er war größer als die meisten Männer, und vor allem zeigte er keine Spur städtischer Verweichlichung. Man spürte an ihm eine gewisse Härte, eine Unnachgiebigkeit, die anziehend und bedrohlich zugleich wirkte. Es gab wohl kaum ein Frauenherz, das bei seinem Anblick nicht schneller klopfte.
Grüßend nickte er einigen Bekannten zu und ging in den Salon, wo Jonathan seine Gäste empfing. Er bemerkte Peter sofort und kam ihm entgegen. Der Verleger, dessen silbergraues Haar im Gaslicht glänzte, sah an diesem Abend besonders gut aus. Das Zischen der Flammen wurde vom Stimmengewirr der Gäste übertönt. Es roch nach Tannennadeln, die von dem großen Weihnachtsbaum stammten, der in einer
Ecke aufgestellt worden war. Die Wände waren mit Girlanden geschmückt. Ein helles Feuer im Kamin und das Klirren von Gläsern trugen noch zu der festlichen Atmosphäre bei.
„Schön, daß Sie kommen konnten, Peter", sagte Jonathan und schüttelte ihm die Hand. „Wie läuft's beim Journal?"
„Viel Arbeit, wie gewöhnlich. Ein Freund von mir erwähnte dieser Tage, daß die alten Holländer, die sich hier niedergelassen hätten, sich beschwerten, die Stadt würde zu schnell wachsen. Die Leute gerieten ständig in Schwierigkeiten."
Jonathan lachte, nahm einem vorübergehenden Kellner zwei gefüllte Gläser ab und reichte ein Glas davon Peter. „Wenn es anders wäre, hätten Sie ja nichts mehr zu schreiben", erwiderte Jonathan, nachdem er einen Schluck Champagner getrunken hatte.
„Das ist wahr." Peter trank ebenfalls und ließ gerade das Glas sinken, als eine Frau seine Aufmerksamkeit
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