Historical Weihnachtsband 1993
ins Haus geschleppt. Es hat noch fast drei Tage gedauert. Ich habe ihn nicht allein lassen können, er hatte große Schmerzen."
„Und du bist die ganze Zeit allein geblieben?"
Laura nickte.
Ohne sich etwas zu denken, streckte Matthew die Hand aus und ergriff die ihre. „Es muß furchtbar für dich gewesen sein."
„Ich habe bloß schreckliche Angst gehabt. Ich kann mich erinnern, daß ich ein paarmal zusammengebrochen bin und geweint habe. Ich habe mir damals so dringend gewünscht, es würde jemand vorbeikommen, den ich um den Arzt hätte schicken können. Wenn Wünsche in Erfüllung gingen . . ." Sie schien sich gewaltsam zu fassen. Ihre Stimme klang fremd. „Vater hat immer gesagt, daß wir niemals wirklich allein wären. Es ist immer einer da,
der uns zur Seite steht und uns Hilfe schickt, wenn wir sie wirklich nötig haben."
Es war beeindruckend, welche innere Kraft diese Frau besaß. „Und nach seinem Tod? Ist da keiner aus dem Städtchen gekommen, hat dir keiner angeboten, dir zu helfen?"
„O doch, sie sind alle sehr nett gewesen. Die Ridgelys haben den alten Judd herübergeschickt, und der hat sich dann um das Vieh gekümmert, bis ich wieder habe arbeiten können. Und Ned Harrison, er hat mir Vorräte aus dem Laden geschickt. Frauen haben mich versorgt mit Essen und Gebackenem. Aber jeder hat genug mit dem eigenen Leben zu tun, Matthew, keiner kann einem auf die Dauer helfen. Und jetzt habe ich schon lange Zeit gehabt, mich an das Alleinsein zu gewöhnen. Ich komme ganz gut zurecht."
„Daran zweifle ich nicht." Er hörte ihr so gerne zu. Ihre Stimme beruhigte ihn, tröstete ihn.
Laura spürte den Druck seiner Hand und wandte sich ab, blickte in die Flammen und empfand ein sonderbares Gefühl der Zufriedenheit. Es hatte so lange niemand mehr nach den Umständen beim Tod ihres Vaters gefragt. So hatte sie das Erlebte tief in sich verschlossen, unerträglich lange.
„Möchtest du noch einen Schluck Whiskey, Matthew?"
In seiner Stimme schwang ein Lachen mit. „Weißt du eigentlich, daß nur meine Mutter und du mich jemals 'Matthew' genannt haben? Alle rufen mich ,Matt'."
„Stört es dich?"
Er schüttelte den Kopf. „Überhaupt nicht."
„Dann", sagte Laura und lächelte ihm zu, „dann frage ich dich noch einmal.
Möchtest du noch etwas Whiskey . . . Matthew?"
„Nein, es ist genug, ich spüre die Schmerzen nicht mehr."
„So möchte ich die Flasche wegstellen und zu Bett gehen."
Als sie nach der Flasche griff, legte er die Hand über die ihre und hielt sie fest. Sofort herrschte wieder äußerste Spannung zwischen ihnen, und selbst wenn es keiner zugeben wollte, wußten sie es doch beide. „Laß den Whiskey besser hier, falls ich in der Nacht aufwache und Schmerzen habe."
Ja, natürlich." Laura entzog ihm ihre Hand und wandte sich ab. Als sie das Zimmer durchquerte, um hinauszugehen, hörte sie, wie er ihr nachrief:
„Schlaf gut, Laura!"
„Danke, du auch, Matthew."
„Laura."
Sie drehte sich herum und sah im Feuerschein das Lachen in Matthews dunklen Augen.
„Falls du in der Nacht einmal nachschauen willst, ob ich Fieber habe, sei willkommen! Aber ich übernehme keine Verantwortung für das, was dann geschehen könnte."
Laura schoß jähe Röte in die Wangen, und fluchtartig verließ sie den Raum.
4. KAPITEL
Laura lag im Bett und zog die Decken bis ans Kinn hoch. Obwohl sie seit Sonnenaufgang gearbeitet hatte, wollte der Schlaf sich nicht einstellen. Zu viele Gedanken kreuzten ihr durch den Sinn, dazu Erinnerungen, unzählige Erinnerungen.
Viele davon waren unvorstellbar schön, einige wenige dagegen so schmerzlich, daß Laura sie jahrelang verdrängt hatte. Sie drehte sich um und schaute in die flackernden Flammen des Kaminfeuers. Und auf einmal war sie wieder das junge Mädchen von fünfzehn Jahren.
. . .Jeden Sonntag begleitete Laura Conners die Eltern in das Städtchen Bitter Creek.
Nach dem Gottesdienst belud der Vater den Wagen mit Lebensmitteln und anderen Vorräten, während die Mutter Besuche bei den Damen machte und sich im Krämerladen umsah, was es denn so an Neuem gäbe. Diese kurzen Stunden fern der heimlichen Farm vermittelten Laura ein Gefühl der Freiheit, und sie bedeuteten ihr sehr viel. Häufig betrachtete sie die Seiten jener Bücher, die Ned Harrison zum Verkauf ausgestellt hatte, und träumte von fremden Ländern, die sie, Laura, niemals sehen würde. Einmal ritt sie sogar auf dem Pony desjungen Billy Harrison, bis der Vater sie ertappte und
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