Historical Weihnachtsband 1993
und nun übernahm sogar dieser Junge die Aufgabe. Rafes Leute würden sich wahrscheinlich ausschütten vor Lachen, wenn sie etwas davon erführen. Bis dahin freilich, das war Rafes fester Vorsatz, mußte er frei und der General der Konföderation sein Gefangener sein. Rafe krampfte sich das Herz zusammen bei dem Gedanken, daß der dazu nötige Handstreich von neuem eine Kluft zwischen Blythe und ihm aufreißen mußte. Aber er hatte keine andere Wahl, keine.
„Ich kann ja mit dir in die Küche gehen", bot er Jaime hilfsbereit an.
Der Junge zögerte und musterte den Major von Kopf bis Fuß sehr aufmerksam. Bei näherer Betrachtung und einiger Überlegung mußte einem eine deutliche Ähnlichkeit zwischen dem Yankee
und Captain Seth auffallen. „Sind Sie mit dem Captain verwandt?" erkundigte sich Jaime.
„Wir sind Brüder", antwortete Rafe Hampton freundlich.
„Und warum hat er Sie dann gefesselt?"
Rafe zuckte die Achseln. „Vermutlich wollte er nicht, daß ich Schwierigkeiten bekomme." Der Halbwüchsige wußte also nichts von dem verwundeten Südstaatengeneral im Obstkeller.
Jaime dachte scharf nach. Doch so sehr er sich auch anstrengte, er begriff nichts, das alles ergab ganz und gar keinen Sinn.
Rafe bemerkte die Verwirrung des Jungen und mahnte sanft: „Vergiß nicht das Wasser!"
Jaime nickte. Miss Blythe hatte gesagt, der große, schlanke Yankee sei ein alter Nachbar, und hatte sich dich keine Angst vor ihm gehabt. Außerdem war er Captain Seths Bruder, also konnte er nicht gar so böse sein. Ein wenig von Jaimes unter härtesten Bedingungen erworbener Vorsicht begann nachzulassen. „Sie gehen voraus", befahl er.
Rafe schlug den Weg zur Küche ein, der ihm so vertraut war. Immer noch roch es nach Apfelkuchen und Gewürzen. Ein Blick aus dem Fenster zeigte, daß es noch dunkel war. Dennoch mußte der Tag bald grauen, der Weihnachtstag mit neuer Hoffnung und Freude. All das war Rafe in den kurzen vergangenen Stunden als kostbarstes Geschenk zuteil geworden. Trotzdem drückte ihn das Pflichtbewußtsein und belastete sein Herz mit dem Vorwurf, nichts Wichtigeres mit diesem Weihnachtstag vorgehabt zu haben, als das Fest mit der Frau, die er liebte, und dem Bruder zu verleben.
Der alte Konflikt zwischen Neigung und Pflicht!
Rafe setzte sich auf die Fensterbank und schaute hinaus, wo die letzten Sterne der weichenden Nacht verglommen. Auch der Mond verblich, und bald schon würde sich im Osten ein hellerer Schein zeigen.
Wieder gellte ein schriller Schrei durch das Haus, und Rafe zuckte unwillkürlich zusammen. Jaime hatte inzwischen das Feuer im Herd entzündet und stellte gerade einen Kessel mit Wasser auf. Danach begann er, Brennholz neben dem riesigen Kamin aufzuschichten, der den Raum beherrschte.
Rafe schaute sich in der Küche um, und endlich fand sein Blick, was er suchte.
Langsam ging der Major einige Schritte, bis er mit den gefesselten Händen ein Küchenmesser berührte. Er faßte es mit der Rechten, und irgendwie brachte er es fertig, den Strick zu durchschneiden, eben als sich Jaime umdrehte.
Die Augen des Jungen weiteten sich, als er die Enden mitsamt dem Messer zu Boden fallen sah. Sofort wandte er sich zur Tür, um Captain Seth und Miss Blythe zu warnen, doch Rafe ergriff ihn und hielt ihn fest, legte eine Hand über seinen Mund.
Jaime drehte und wand sich, gab dann aber auf, sobald er begriffen hatte, wie hilflos er in dieser Lage war.
„Niemandem wird etwas geschehen", sagte Rafe leise, „solange du dich ruhig verhältst. Verstanden?"
Jaime erstarrte, doch jeder Muskel, jede Faser seines Körpers schien sich wehren zu wollen. Aber er wußte nicht, was er tun sollte. Dieser Yankee war viel stärker als er, der magere Junge. Nach einer Weile nickte er.
Rafe gab ihn frei. Doch als Jaime gleich wieder zur Tür stürzte, sah er sich blitzschnell von neuem gepackt, diesmal wie mit eisernen Zangen. „Ich möchte dich nicht fesseln müssen, Jaime", murmelte Rafe.
Der Junge wand sich in dem eisernen Griff des Yankee-Offiziers.
„Was werden Sie tun?"
Das, dachte Rafe, ist eine wirklich berechtigte Frage. Er wäre froh gewesen, das selber zu wissen. „Ich möchte vermeiden, daß jemandem etwas zustößt", bekräftigte er und umging damit eine eigentliche Antwort auf Jaimes Worte.
„Sie sind nicht wie Captain Seth." Die vorwurfsvoll vorgebrachte Bemerkung schnitt Rafe schmerzlich ins Herz. Er hatte immer gut mit Kindern umgehen können. Aber das war lange her, und zwischen damals
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