Historical Weihnachtsband 1993
aufschauten. Plötzlich fühlte er, wie sich eine winzige Hand an sein Hosenbein klammerte.
„Hab Angst", piepste ein zitterndes Stimmchen.
Und Rafe konnte einfach nicht mehr hart bleiben. Seit er die Farm betreten hatte, kämpfte sein altes Ich gegen den verbitterten Soldaten, der er geworden war. Nun verspürte Rafe Hampton das drängende Verlangen, diese Kinder zu beruhigen, ihnen zu helfen, sie zu trösten und einer zu werden, der in ihren Kreis gehörte.
„Wie heißt du denn?" fragte er und ging in die Knie herunter, so daß seine Augen mit denen des kleinen Jungen auf einer Höhe waren.
„B . . . B ... Benji", stotterte das Kind.
„Gut, Benji. Es wird gleich wieder besser gehen. Maria ... es ist doch Maria?" Als Benji stumm nickte, fuhr Rafe fort: „Maria wird
bald schon ein schönes Kindchen haben. Mein Bruder, Captain Seth, ist der beste Arzt weit und breit!"
„Bist du ein Soldat?" ließ sich eine vorwurfsvolle Stimme vernehmen, „was willst du stehlen?" Das klang so niedergeschlagen, als sei allgemein anzunehmen, daß Raub die Alltagsbeschäftigung jedes Uniformierten bedeute.
„Nein", sagte Rafe leise. Was mußten diese jungen Geschöpfe durchgemacht haben!
Beim Anblick der blassen Gesichter, der angstgeweiteten Augen und vor Furcht erstarrten mageren Körper mußte er an seine eigene Kindheit denken. Gott im Himmel, wie glücklich war sie verlaufen, umhegt und herzlich geliebt. Sie waren ihrer sechs, vier Brüder und zwei Schwestern. Mutter und Vater hatten sie in einer Umgebung voll Unbefangenheit, Sicherheit und Sorglosigkeit mit aller Liebe aufwachsen lassen, die man sich nur wünschen konnte. Und vor allem Weihnachten war eine ganz wunderbare Zeit gewesen, eine Zeit der Freude und der Wunder.
Keine Spur von Angst.
Angst war dagegen alles, was diese Kinder hatten. Wieder drang ein erstickter Schrei aus dem Zimmer, und Benji begann zu weinen.
Rafe hob den Kleinen auf den Arm. „Wir wollen alle in die Wohnstube hinuntergehen", sagte er, „und ich werde euch eine Geschichte erzählen."
Alle Blicke waren auf ihn gerichtet, ungläubig, argwöhnisch, vor allem Jaime schien unschlüssig. Schließlich nickte eines der Mädchen zögernd, dann ein zweites.
Rafe ging ihnen voran die Treppe hinunter, Benji auf dem Arm. Das Haus war dem Major so vertraut wie das eigene. Beim Eintritt in den Salon rissen die Kinder staunend die Augen auf beim Anblick der grünen Zweige, um die rote Bänder gewunden waren, der Tücher und Stoffpuppen, die liebevoll um den Kamin aufgereiht waren.
„Der Weihnachtsmann war da", sagte ein winziges Geschöpf mit schwarzem Haar, und alle schauten auf Rafe, ob er diese Annahme auch bestätigte.
„Das muß er wohl gewesen sein", pflichtete er dem Kleinen bei. Dann ließ Rafe Benji behutsam auf den Boden nieder und beugte sich hinunter, um eine der Puppen näher zu betrachten. Sie trug einen Zettel, auf dem ein Name geschrieben stand.
„Für Benji", las
er. „Diese da gehört Benji", und erntete ein strahlendes Lächeln. Die zweite Puppe war für „Suzie" bestimmt, und er fragte: „Wer von euch ist Suzie?"
Das allerkleinste der Mädchen schaute sehnsüchtig auf das Spielzeug, wagte aber offensichtlich nicht vorzutreten, weil sie sich vor dem Offizier fürchtete.
Die Angst des Kindes berührte ihn in seinem Innersten. Rafe streckte die Hand aus und hielt Suzie das Geschenk hin. Als sie es von ihm annahm, fühlte er sich, als hätte er eben eine Schlacht gewonnen.
„Du bist aber nicht der Weihnachtsmann", stellte ein anderes Mädchen mit zusammengekniffenen Augen enttäuscht fest.
„Nein, mein kleiner Liebling", sagte er. „Der bin ich leider nicht."
Ein Schrei vom oberen Stockwerk herunter unterbrach ihn, und neun Augenpaare wandten sich der Treppe zu.
„Maria muß sterben", bemerkte eines der Kinder. „Wie meine Mutter. Sollte auch 'n Baby haben." Es klang so gleichmütig, daß es Rafe ins Herz schnitt.
Gott im Himmel, was ging bloß mit Rafe Hampton vor? Er hätte sich längst um den General im Keller Gedanken machen sollen. Statt dessen geisterten ihm Blythes goldbraune Augen dauernd durch den Sinn und die schreckgeweiteten der Kinder, in deren Mitte er stand.
Der General, verdammt noch mal, dieser verwünschte General. Seine Gefangennahme konnte die Dauer des Krieges verkürzen, denn Massey mußte mit Lees Plänen vertraut sein. Nicht, daß Rafe etwa annahm, der General würde darüber sprechen, wenigstens nicht aus freien Stücken. Aber
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