Historical Weihnachtsband 1993
Lippen tastete und verhieß und gewährte, und Blythe erwiderte dies ebenso. Sie wünschte sich nur, daß er mit ihr dieses selige Vergessen teilen sollte, das die kurzen Augenblicke, in denen sie miteinander allein waren, brachten.
Früher hatten sie einander auch stürmisch wie inniglich geküßt doch war da immer noch eine gewisse Scheu gewesen. In dem Bewußtsein, bald zu heiraten, waren sie entschlossen gewesen zu warten und die körperliche Erfüllung ihrer Liebe zurückzustellen. So war Blythe erzogen worden, und Rafe Hampton hatte dies geachtet. Zu spät erst hatten sie beide verstehen gelernt, daß es Monate, vielleicht sogar Jahre dauern könnte, bevor sie vor den Altar treten würden. Wer hätte auch ahnen können, daß immerhin vier Jahre verstreichen sollten, ehe sie einander überhaupt wiedersahen? Und eben weil sie so lange hatten verzichten müssen, brach sich die Leidenschaft nun um so heftiger Bahn, ja, geriet völlig außer Kontrolle.
Beide küßten sich immer wieder, Blythe preßte ihren Körper wie verzweifelt an den seinen, spürte eine unbekannte Begierde, die von ihrem Innersten ausging und sie zu überwältigen drohte.
Unvermittelt löste Rafe fast gewaltsam seine Lippen von den ihren. „Blythe", stöhnte er auf, „ich begehre dich, ich begehre dich so sehr."
Ihre Lippen, wollten ihn nur widerstrebend freigeben. Blythe sah, wie widerstreitende Empfindungen sich in seinen Zügen malten. „Ich liebe dich", flüsterte sie, „ich werde nie aufhören, dich zu lieben."
„Obwohl ich ein Eindringling in deinem Hause bin?" konnte er nicht umhin voll Bitterkeit zu fragen.
„Weil du dieser Eindringling bist", gab sie zurück, kuschelte sich wieder ganz fest an ihn und reckte sich, um ihn zart und doch sehr verheißungsvoll zu küssen.
„O Blythe, wie habe ich bloß diese letzten beiden Jahre überstehen können, in denen ich glaubte, ich hätte dich verloren? Es gab eine Zeit..."
Sie streichelte sein Gesicht. „Sprich nicht weiter. Ich kenne das. Wenn ich die Kinder nicht gehabt hätte und Seth . . . Aber sie waren da, und das wenigstens tröstete mich ein wenig. Doch als ich dann nichts mehr von dir hörte, kein Wort, keine einzige Zeile, da starb ich beinahe vor Angst. Und dabei wußte ich, wußte im tiefsten Herzen, daß du am Leben sein mußtest. Denn ich hätte es gespürt, wenn dir etwas zugestoßen wäre, und wäre mit dir gestorben." Eine Träne rann langsam über Blythes Wange. „Irgendwie hätte ich es gespürt."
„Es tut mir ja so leid, Liebste, Gott weiß, wie leid es mir tut", sagte er, und seine Stimme klang so bedrückt wie nie zuvor. „Und ich war der Meinung, es wäre besser so für dich . . . und Seth." Hinter diesen Worten schwang soviel Schmerz mit, daß Blythe die Hand hob und sie ihm auf den Mund legte, eine stumme Versicherung, daß das alles jetzt nicht mehr zählte, nicht in dieser Stunde.
„Meine liebe, schöne Blythe", flüsterte er und verschloß sich mit Augen und Sinnen der Frage nach dem Morgen, nach der Zukunft. Bei der geringsten Bewegung schnitt der Strick Rafe ins Fleisch und mahnte nur allzu deutlich an die Lage, in der sich er befand. Er hob den Blick und schaute zu dem General der Konföderierten. Würde seine Gefangennahme wirklich den Krieg verkürzen, die Unzahl jener Opfer verringern, welche die kommenden Wochen gewiß fordern würden? Er bezweifelte es nun doch. Wenn Sheridan bloß sich seiner Sache nicht so verdammt sicher gewesen wäre! Und wenn auch nur die geringste Chance bestand ...
Aber Seth würde seinen Schützling niemals freiwillig gehen lassen, hatte Rafe zu verstehen gegeben, daß es zum Kampf führen müßte, daß er, Seth, die Auslieferung Masseys, wenn nötig, mit einer Kugel auf den Bruder verhindern wollte. Und Rafe wußte, daß er selber nicht so würde handeln können, denn er war ein viel zu sicherer Schütze und besaß nicht die ärztlichen Kenntnisse und Fähigkeiten des Bruders . . . Ihm blieb nur die Möglichkeit, Seth zu bluffen. Wie aber konnte man das mit gefesselten Händen und Füßen? Und eben deshalb hatte Seth ihn gebunden und verließ sich auf Blythe, daß sie den Strick nicht lösen würde. Seth wußte genau, daß Rafe niemals etwas von Blythe verlangen könnte, das sie in einen lebenslangen Gewissenskonflikt stürzen könnte. Seth war anders geworden, erfahrener und härter.
Als ob Rafes Gedanken den Bruder herbeigerufen hätten, wurde jetzt die Tür geöffnet, und Seth stieg die Stufen herunter. Ein
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