Historical Weihnachtsband 1993
vielleicht konnten sie ihm mit geschickten Fragen wenigstens etwas entlocken, das von Bedeutung war. Denn nur das allein zählte. Es ging hier nicht um ihn, Rafe Hampton, auch nicht um Seth. Es kam einzig und allein darauf an, diesen verdammenswerten Krieg nicht noch länger andauern zu lassen. Geradezu verzweifelt suchte Rafe nach Argumenten, um sich selbst von der Notwendigkeit seines Vorgehens in diese Sache zu überzeugen.
„Geschichte erzählen!" verlangte Benji und zupfte Rafe wieder an einem Hosenbein.
Hol der Teufel den General. Massey konnte schließlich nicht weglaufen. Da kam es auf ein paar Minuten mehr oder weniger ganz gewiß nicht an.
Rafe trat an eine Kommode und legte Blythes Pistole in die oberste Schublade, den Revolver von Seth dazu. Nur die eigene Waffe ließ er im Halfter stecken. Keines der Kinder sollte unbemerkt mit einer hantieren und sie vielleicht gar noch abfeuern.
Dann erst setzte er sich in den weichen, ledergepolsterten Sessel, den Blythes Vater so geliebt hatte. Benji kletterte auf Rafes Knie, die anderen kauerten im Halbkreis auf dem Fußboden und schauten mit etwas zweifelnden Mienen zu Rafe auf. Mit unverhohlenem Argwohn stand Jaime breitbeinig auf der Schwelle.
„Es begab sich", begann Rafe schließlich ein wenig unsicher. War es wirklich schon so lange her, daß er sich nicht einmal mehr an die Worte erinnern konnte, die er und seine Geschwister während all der Weihnachtsfeste immer wieder gehört hatten, während sie zu Füßen des Vaters gesessen und der Geschichte gelauscht hatten? Obwohl es immer derselbe Wortlaut geblieben war, hatte es der Vater jedesmal fertiggebracht, sie neu und aufregend zu gestalten, indem er da und dort ein kleines Detail aus eigenem Antrieb hinzufügte. Da mochte es einen Esel geben, der Sam hieß, einen Engel mit dem Namen einer der Schwestern oder gar einen dickköpfigen Hirten Rafe oder Seth. Bei der Erinnerung lächelte Rafe, wurde jedoch schnell wieder ernst.
Seither waren Jahre vergangen, und während der letzten drei hatte Rafe gar nicht mehr an Weihnachten gedacht, weil es zu schmerzlich gewesen wäre für ihn, der auf Seiten der einen Partei stand in diesem verdammten Krieg, sein Bruder aber auf der anderen. Seth hatte es da noch leichter gehabt. Er war Arzt und rettete Menschenleben, und diese Berufung hatte nichts mit der Farbe einer Uniform zu schaffen. Er dagegen, Rafe, gehörte zu denen, die Leben auslöschten, viele, zu viele, als daß nicht jeder einzelne Tote zu einer bleibenden alptraumhaften Erinnerung werden mußte. Und doch war es die einzige Möglichkeit gewesen, selbst zu überleben.
„Es begab sich ...", erinnerte ihn eine leise Mädchenstimme, und er schaute auf.
„Wie heißt du, Kleines?"
„Suzie."
„Und du?" fragte er das nächste Kind.
"Abraham", antwortete der Knabe und wies auf den neben sich. „Der da ist mein Bruder Micah."
Außerdem gab es noch Margaret, Sarah, Katy und July. Bei dem letzten Namen mußte Rafe lächeln und fragte sich im stillen, ob er auch richtig verstanden hätte, vor allem aber, wie in aller Welt es Blythe wohl in dieser Zeit fertiggebracht hatte, sie alle zu versorgen.
„Geschichte", wiederholte Benji beharrlich. Sein Kopf lag nun an Rafes Brust und fühlte sich warm und angenehm an, als gehörte er einfach dahin.
„Und es begab sich zu der Zeit", begann Rafe noch einmal, „in einem fernen, fernen Lande, daß da ein Mädchen lebte, gerade wie eure Maria hier oben im Haus, die auch ein Kindchen haben sollte." Sonderbar, wie nach so langen Jahren die Worte sich wiederfanden, wie schnell aber auch die kleinen Gesichter seiner Zuhörer einen andächtigen Ausdruck annahmen, angerührt von der Geschichte.
„. . . und so kamen sie nach Bethlehem und suchten einen Platz in der Herberge, damit dieses Mädchen, es hieß auch Maria sich ausruhen könnte. Denn es war kalt, bitter kalt, und Maria war so müde." Die sonore Baritonstimme klang weich und voll, der Tonfall folgte einem eigenen Rhythmus, und die Kinder drängten sich näher an den Erzähler, wie magnetisch angezogen.
„Müde, so wie ich und Margaret", sagte Benji und kuschelte sich inniger in Rafes Arm.
„Und ich", flüsterte Suzie.
„Ich auch", fiel eine andere ein.
„Und dann haben wir Miss Blythe gefunden", flüsterte ein viertes Kind.
Rafe saß mit einem Male ein Kloß in der Kehle, sein Atem ging schwer. Blythe hatte die Kinder so beiläufig erwähnt, und in der Wirrnis, den widerstreitenden Empfindungen
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