Historical Weihnachtsband 1993
lächelte etwas gezwungen. „Es fällt einem leicht, er ist so, so anhänglich."
„Liebesbedürftig" wäre das richtigere Wort, dachte er, der Junge braucht dringend Geborgenheit und Sicherheit.
Blythe schaute Rafe betroffen an. „Für gewöhnlich ist er das überhaupt nicht", widersprach sie, „wenigstens nicht Fremden gegenüber."
„Wahrscheinlich ist es so, weil Seth und ich einander ziemlich ähnlich sehen. Sie scheinen ihn alle sehr gern zu haben." Ein leiser Unterton von Einsamkeit und Verletzlichkeit schwang in seiner Stimme mit und traf Blythe ins Herz.
Sie drückte seine Hand noch fester. „Möchtest du jetzt vielleicht das Kleine sehen?"
Rafe schaute auf sie nieder. Im schwachen Licht der Morgendämmerung wirkte Blythes Gesicht unsagbar weich und schön, die großen Augen leuchteten. Es war Rafe ganz unmöglich, ihre Frage zu verneinen. Darum nickte er und folgte ihr hinauf.
Das Neugeborene, gewaschen und zufrieden, schlummerte in den Armen der jungen Mutter.
Maria sah überaus kindlich aus, strahlte vor Freude und drückte das winzige Bündel innig an sich. Ein kaum merklicher Schatten legte sich über ihre Züge, als sie die blaue Uniform erkannte.
„Es ist ein Freund", sagte Blythe begütigend, und das Mädchen entspannte sich sichtlich. Wenig später verrieten leise, regelmäßige Atemzüge, daß Maria endlich eingeschlafen war. Die drei Menschen, Blythe und die Brüder, wechselten erleichterte Blicke.
„Ist sie außer Gefahr?" fragte Rafe.
Blythe nickte. „Das hat sie Seth zu danken." Mit einem hinreißenden Lächeln setzte sie hinzu: „Maria will ihr Kind ,Blythe' nennen."
Auch Seth schmunzelte und machte einen ungewöhnlich selbstzufriedenen Eindruck. Das änderte sich schnell, als der Arzt sich seinem Bruder zuwandte und den Revolver bemerkte, den er im Halfter stecken hatte. „Wie geht es nun weiter, Rafe?" fragte er angespannt.
„Ich muß ihn ins Camp bringen, das weißt du", gab Rafe zurück.
„Wenn der General gefangengenommen wird, gehe ich mit ihm", sagte Seth. „Seine Verwundung ist sehr schwer, und ich traue euren Feldärzten nicht."
„Du würdest ebenfalls in Gefangenschaft kommen, und wahrscheinlich würde man dich nicht bei ihm bleiben lassen. Sei kein Narr!"
Seth machte eine gleichmütige Gebärde. „Das gehört nun einmal zu meinem Beruf, zu meiner Aufgabe." Er wandte sich zur Tür. „Und wenn wir schon dabei sind: ich muß mich jetzt unbedingt um ihn kümmern."
„Seth!" Rafes Ausruf enthielt eine unmißverständliche Warnung.
Der Arzt drehte sich um. „Du mußt mich schon erschießen, wenn du mich hindern willst, meine Pflicht zu tun." Damit ging er aufreizend langsam hinaus und die Treppe hinunter.
5. KAPITEL
Im stillen verwünschte Rafe seinen Bruder. Seth hatte immer schon eine Art gehabt, Rafe ins Unrecht zu setzen, selbst wenn der sich im Recht fühlte. Und diesmal, zum Teufel, diesmal war er doch wirklich im Recht. Während er so dastand, bemerkte er, daß Blythe ihn anschaute, und er erriet ihre Gedanken. Wer war er, Rafe Hampton, in der augenblicklichen Lage? Ein Offizier, ein Bruder, ein Liebender? Diese Fragen standen ihr so deutlich im Gesicht geschrieben. Die Antwort freilich kannte er selber nicht, Gott im Himmel, nein. Als Rafe vor Stunden hier aufgetaucht war, hatte er es noch gewußt, ein Offizier, nichts weiter. Doch die vergangenen Stunden machten ihn jetzt so unsicher. Wie sollte er Recht und Unrecht unterscheiden, Liebe und Pflicht auseinanderhalten, und was hatte Ehre mit all dem zu tun? Ging es hier überhaupt um den Begriff der Ehre? Noch gestern wären ihm derlei Erwägungen nicht in den Sinn gekommen, heute begann er an sich selbst irre zu werden.
Der Krieg war beinahe zu Ende, das schien klar, denn die Südstaaten lagen in Schutt und Asche. Einzig der Stolz der Konföderierten hinderte sie daran, sich dies einzugestehen. Was also konnte ein einziger General noch ändern? Rafe hatte Massey ins Gesicht geschaut und darin trotz der Schmerzen Entschlossenheit gelesen. Dieser Mann würde nicht aussagen, würde keine Pläne preisgeben. Die schwere Verwundung mochte ihn außerdem für den Rest der Kämpfe außer Gefecht setzen. Seth hatte zudem recht. In dem gegebenen Zustand mußte man damit rechnen, daß der General in einem Gefängnis der Union nicht überlebte. Die Verhältnisse dort waren mehr als katastrophal, die Hölle konnte nicht schlimmer sein. Und Seth, was sollte aus Seth werden, wenn er mit dem General in
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