Historical Weihnachtsband 1993
schaute in die strahlende Helle eines klaren, schönen Wintertages. Als sie sich umsah und sich langsam an die Lichtfülle gewöhnte, fiel ihr Blick mit spontanem Entzücken auf den raureifbedeckten Rasen vor dem Hause. Er schien auf eine zauberische Weise verwandelt. Und das geheimnisvolle Kommen und Gehen dieses Morgens hatten ganz offensichtlich einen triftigen Grund gehabt.
Eine rohgefügte Unterkunft, die wohl einen Stall darstellen sollte, war aus einigen Zaunpfählen und einer Decke aufgebaut worden. Drinnen stand in der Mitte eine Krippe, ein Sessel daneben. Darauf saß Maria, warm eingemummt, mit dem Kinde auf dem Arm, Die einzige Kuh hatten sie aus dem Waldversteck geholt, und sie versuchte zu grasen, wo sie den Schnee zur Seite geschoben hatten, dicht bei dem Behelfsstall.
Blythe wandte den Kopf, bemerkte, daß der Trog beiseitegerückt war und den Kellereingang freigab. Eben erschien dort Seth und führte den General heraus, mußte ihn aber fast tragen. Unter der dicken, überhängenden Eiche ganz in der Nähe half Seth dem Verwundeten, sich auf einen Stuhl niederzulassen. „Als ich ihm erzählte, was hier vor sich gehen sollte", sagte Seth achselzuckend, „war General Massey nicht mehr davon abzuhalten, dabei zu sein."
Blythe musterte Massey. Das Gesicht war blaß und gespannt, doch die Augen leuchteten. Er lächelte etwas verzerrt, wahrscheinlich hatte er Schmerzen, und wies auf Rafe. „Er weiß ohnehin, daß ich hier bin. Und außerdem haben wir Weihnachten."
Blythe blickte zu Rafe. Über seine Züge huschten Schatten, Hochachtung, Kummer, vielleicht sogar etwas Argwohn, als er von seinem Bruder zu Massey schaute. Blythe konnte sich denken, was Rafe nun durch den Kopf gehen mochte, ergriff seine Hand und drückte sie fest.
Er erwiderte den Druck, während seine Gedanken durch den Kopf rasten. Hol der Teufel Seth! Es sah seinem Bruder ähnlich, ihn, Rafe, so zu überrumpeln. Verdammt, wie konnte er den General hier vor den Augen der Kinder gefangennehmen, nachdem sie
alle miteinander Weihnachten gefeiert hatten? Rafe hätte wissen müssen, daß Seth jeden Trumpf ausspielen würde, den er noch im Ärmel hatte.
Rafe verzog belustigt den Mund, als er die Miene seines Bruders deutete, und hob mit gespielter Unschuldsgebärde beide Hände.
Dann zog leiser Hufschlag die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. In ein weißes Laken gehüllt, erschien Margaret auf dem Rücken der alten Mähre. Benji hielt würdevoll und bedacht die Zügel. Vor dem sogenannten Stall trat ihnen Abraham entgegen.
„Wir suchen Herberge", sagte Joseph alias Benji.
„Haben keinen Platz", erwiderte Abraham mürrisch.
„Aber es ist kalt, und Maria, ich meine, diese Maria da, soll ein Baby kriegen."
Abraham zog die Stirn kraus, als überlegte er. „Ihr könnt im Stall bleiben."
Benji stockte auf einmal, wußte sichtlich nicht weiter und warf Rafe einen hilfeflehenden Blick zu. Rafe nickte und bedeutete Benji, das auch zu tun. Zum General gewandt erklärte Rafe leise: „Wir haben nicht viel Zeit zum Einüben gehabt."
Erleichtert wandte sich Benji wieder an Abraham und nickte Zustimmung. Dabei hielt er den Kopf gerade so wie Rafe. Margaret schien etwas aus der Fassung geraten, glitt aus dem Sattel und zog Joseph mit sanfter Gewalt am Arm zu der Krippe hin, aus der sie ein kleines Bündel hob. Aus einer anderen Richtung kamen nun die Hirten gegangen, in Decken gewickelt, die mit Stricken um die Taillen gegürtet waren.
„Wir kommen von weit her", begann Micah, Abrahams Bruder, „von sehr weit", stotterte er dann, verhedderte sich in seinem Sprüchlein und wiederholte hilflos:
„Von sehr, sehr weit."
Der zweite Hirte stieß Micah unsanft den Ellbogen in die Rippen, und Blythe mußte sich ein Lachen verkneifen, als Sarah mit heller Stimme aufgeregt weitersprach. „Wir waren bei den Schafen, da erschienen Engel auf dem Feld und sagten . . ., sagten ..."
Margaret zischte Sarah etwas zu, als nun auch diese nicht weiter wußte, und Blythe hörte, wie Rafe ein leises Lachen unterdrückte.
„Siehe, ein Kind ist geboren .. ."Wieder stockte Sarah, um dann von neuem von vorne anzufangen. „Siehe, ein Kind . . .", worauf Margaret ihr mit entrüsteter Miene noch etwas zuflüsterte. „Und er soll Jesus heißen", sagte Sarah triumphierend.
Jetzt tauchten die Engel auf und sangen mit hellen, jubelnden Stimmen. „Horcht, die Engel bringen frohe Kunde . . ."
Blythe umklammerte Rafes Hand noch fester. Das Herz klopfte ihr
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