Historical Weihnachtsband 1993
Standuhr in der Wohnstube schlug zwölfmal. Mittag. Die letzte Strophe verklang, und Blythe schickte die Kinder weg, im Haus noch einige leichte Arbeiten zu verrichten. Sie selbst dachte nach, wie sie das Essen in Portionen einteilen sollte.
Schon für elf Menschen wäre die Mahlzeit nicht übermässig reichlich gewesen, nun mußte man auch zwei erwachsene Männer und einen Verwundeten dazu rechnen.
Blythe hätte sich schon wieder ein Wunder wünschen mögen, ähnlich der
„wunderbaren Brotvermehrung" aus der Bibel. Heute wären noch mehr Wunder vonnöten gewesen!
Blythe schaute an sich hinunter. Eine Schürze verdeckte fast ganz das Samtkleid. Der Rock besaß eine kleine Schleppe, da Blythe damals darauf bestanden hatte, nur kleine Reifen einarbeiten zu lassen statt der ausladenden, wie sie vor dem Krieg so in Mode und noch dazu sehr unpraktisch gewesen waren. Zwischen Sorge und Hoffnung wartete Blythe auf Rafes Rückkehr. Wahrscheinlich hatte er ein wenig das Terrain sondieren wollen, vielleicht aber auch nur mit einigen widerstreitenden Gefühlen ins reine kommen, die in ihm kämpfen mochten. Immer schon war Rafe Hampton verschwunden, um erst einmal nachzudenken und allein Für und Wider gegeneinander abzuwägen, bevor er eine Entscheidung traf. Und doch sagte etwas im Innersten, daß diesmal die Entscheidung bereits gefallen war.
Blythe spürte Rafes Gegenwart, noch bevor er wirklich zu sehen war. Sie stand eben mit dem Rücken zur Tür und wendete die Hühner, als sie einen leichten Schauer der Erregung empfand. Die Luft schien auf einmal mit magnetischen Strömen geladen wie vor einem schweren Unwetter.
„Keine Gefahr?" fragte Blythe, ohne sich umzudrehen.
„Keine", gab er zurück, doch es klang nicht sehr überzeugt.
„Die Kinder wissen, daß Seth da ist. Wahrscheinlich ahnen sie daß irgendetwas im Gange ist." Nun erst richtete sich Blythe auf und sah ihn am Türpfosten lehnen, Hut und Handschuhe unter dem Arm. Rafe wirkte ziemlich verfroren. Das war kein Wunder, denn er trug weder Waffenrock noch Mantel. „Komm ins Warme!" sagte sie „nun, da die Kinder ohnehin Bescheid wissen, können wir auch Seth und den General hierher bitten."
„Das habe ich schon in der Nacht versucht. Seth scheint überzeugt, daß er Massey, solange sie hier sind, schützen könnte. Wie im Märchen von ,Des Kaisers neuen Kleidern' will er einfach nicht einsehen, daß es bloß eine Illusion ist." In Rafes Stimme klang Verzweiflung an, und Blythe wandte sich ihm zu. „Ich habe ihre Pferde ausfindig gemacht", sagte er. Immerhin kannte er jeden Winkel der Farm, vor allem die Verstecke. „Nun sind sie getränkt und gefüttert."
„Und Jaime?"
„Sitzt wie angewachsen auf einem Baum, die Muskete im Arm. Wahrscheinlich könnte er eher sich selber damit umbringen, als jemand anderen."
„Du würdest dich wundern. Er hat schon zahlreiche Wildkaninchen. damit erlegt."
„Vielleicht hätte ich das Gewehr doch auch an mich nehmen sollen?"
Blythe fragte nicht, was aus Seths Revolver und der Waffe des Generals geworden war, die Rafe sichergestellt hatte. Seinen eigenen trug er im Halfter an der Hüfte.
Blythe hob den Blick und bemerkte, daß Rafe sie immer noch anschaute. Nun trat er auf sie zu und legte ihr die Hand auf die Schulter. Er konnte einfach nicht genug davon bekommen, Blythe zu berühren. „Ich wollte, ich könnte dir ein Weihnachtsgeschenk machen", sagte er zögernd.
„Das hast du doch bereits getan, es war das beste, das ich mir wünschen konnte. Du bist am Leben und hier bei mir."
„Und damit bringe ich dir nichts als Schwierigkeiten und Kummer." Seine Stimme brach ab, und Blythe bemerkte, daß er sie mit großen Augen ansah. „Weiß Gott, was sonst noch alles!" Er kämpfte gegen sich selber an, wie er es schon draußen auf dem Ritt getan hatte. Die Pflicht verlangte, daß er aufbräche und Massey als Gefangenen mitnähme, auch Seth, wenn der ihm keine andere Wahl ließe. Doch Rafe hatte Benji versprochen, bei dem Krippenspiel dabeizusein, außerdem wollte er jeden nur möglichen Moment mit Blythe auskosten, jede Minute, die ihm heute noch gegeben war. So kam Rafe das Versprechen, das er Benji gegeben hatte, nur zu gelegen als gute Ausrede, und natürlich wußte er das auch. Dabei hatte er kein Recht, ihr „Frohe Weihnachten" zu wünschen, wenn er ihr das Fest schließlich doch verderben mußte.
Das schmerzte heftiger als eine körperliche Wunde. So begnügte er sich damit, Blythe zu berühren und ihr
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