Historical Weihnachtsband 1993
gemeinsamen Feind, die Engländer. Der bloße Gedanke daran gab MacGregor Kraft. Mochte der Teufel alle Engländer holen! Sie hatten seinen Namen auf die schwarze Liste gesetzt und seine Leute niedergemetzelt. Jetzt streckten die Rotröcke die gierigen Hände sogar über das Meer, damit der englische König seine zu strengen Gesetze durchdrücken und die harten Steuern eintreiben konnte.
MacGregor stolperte und verlor beinahe den Zügel. Einen Augenblick lang blieb er mit geschlossenen Lidern stehen, den Kopf an den Hals des Pferdes gelehnt. Das Gesicht des Vaters erschien ihm, sah ihn mit seinem stolzen Blick an.
„Erkämpf dir deinen Platz im Leben", hatte der Vater dem Sohn immer eingeschärft,
„und vergiß niemals, daß du ein MacGregor bist!"
Nein, das würde er ganz gewiß nicht vergessen. Mühsam öffnete er die Augen, bemerkte durch das Schneegestöber hindurch die Umrisse eines Gebäudes.
Behutsam blinzelte er, rieb sich mit der freien Hand die müden Augen. Das Bild blieb, grau zwar und verschwommen, aber wirklich.
„Na gut, altes Mädchen." Er lehnte sich schwer an die Stute. „Vielleicht hat unsere letzte Stunde heute doch noch nicht geschlagen." Schritt für Schritt schleppte er sich näher. Es war wohl eine Scheune, ziemlich groß und aus soliden Tannenstämmen gezimmert. Mit steifen Fingern machte er sich an dem Riegel zu schaffen. Die Knie drohten ihm den Dienst zu versagen. Und endlich stand MacGregor drinnen, spürte die wohltuend warme Nähe der Tiere im Zwielicht. Er wandte sich mit letzter Kraft einem Heuhaufen zu, bemerkte dahinter eine gescheckte Kuh. Sie äußerte ihre Ablehnung mit einem aufgeregten Muhen.
Es war das letzte, was MacGregor warnahm.
Alanna legte ihren Wollumhang um. Das Feuer im Kamin in der Küche brannte hell.
Es duftete schwach nach Holz. Selbst diese kleine Alltäglichkeit machte Alanna Freude. Heute war sie mit einem Gefühl glücklicher Erwartung aufgewacht.
Wahrscheinlich hatte der Schnee diese Empfindung ausgelöst, obgleich der Vater beim Aufstehen das Wetter verwünscht hatte. Sie dagegen liebte das Schneetreiben und freute sich daran, wie das reine Weiß die kahlen Äste der Bäume bedeckte.
Schon ließ das Flockentreiben nach. Innerhalb der nächsten Stunde würde der Hof mit Fußspuren übersät sein, zu denen auch die ihren gehörten. Denn sie mußte sich um die Tiere kümmern, Eimer mit Wasser heranholen, während die Männer Pferdegeschirre ausbesserten und Holz spalteten. Um so mehr genoß Alanna diesen Augenblick, schaute aus dem kleinen Fenster und freute sich an dem Anblick draußen.
Wenn der Vater sie bei so etwas überraschte, pflegte er den Kopf zu schütteln und sie eine Träumerin zu nennen. Das mag zwar rauh klingen, dachte sie, aber niemals zornig, eher bedauernd. Auch die Mutter war eine solche Träumerin gewesen. Doch sie hatte sterben müssen, ehe ihr Traum von eigenem Land, einer Heimstatt und einem Leben ohne Not wahr geworden war.
Cyrus Murphy war kein harter Mann, war es wohl kaum jemals gewesen. Jetzt dachte Alanna anders darüber und verstand, daß einfach der Tod, der häufige Tod es gewesen sein mußte, der den Vater rauh und reizbar hatte werden lassen. Erst zwar zwei kleine Kinder, dann die geliebte Frau, ihre Mutter, und schließlich ein erwachsener Sohn, der junge Rory, der im Krieg gegen die Franzosen gefallen war.
Und Alannas eigener Ehemann, der gute Michael Flynn, war ihnen, wenn auch auf eine weit weniger dramatische Weise, genommen worden. Immerhin war auch er von ihnen gegangen.
Eigentlich dachte Alanna nicht mehr allzu oft an Michael. Schließlich war sie nur drei Monate lang verheiratet gewesen, dagegen seit drei Jahren schon Witwe. Er war ein guter Mensch gewesen, und sie bedauerte es zutiefst, daß ihnen die Möglichkeit versagt geblieben war, eine richtige Familie zu gründen.
Heute war jedoch kaum der Tag, alten Sorgen nachzuhängen. Mit dieser Überlegung zog Alanna die Kapuze des Umhangs über den Kopf und ging hinaus. Jetzt war es an der Zeit, an Verheißungsvolles zu denken, an einen Neubeginn. Weihnachten rückte schnell näher, und sie war fest entschlossen, das Fest fröhlich zu gestalten. So manche Stunde hatte sie am Spinnrad und beim Stricken verbracht und neue Schals, Handschuhe und Mützen für die Brüder angefertigt, in Blau für Johnny, für Brian in Rot. Als Geschenk für den Vater hatte Alanna ein kleines Bild, das ihre Mutter zeigte, von einem Silberschmied am Ort rahmen lassen, was
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