Historical Weihnachtsband 1993
Schuhspitze leicht an. Er rührte sich nicht.
Alanna stemmte die Arme in die Hüften und nahm an, daß er sinnlos betrunken sein müßte. Aus welchem Grunde konnte er sonst schlafen wie ein Toter? "Aufwachen, Sie da! Ich kann nicht melken, wenn Sie mir so vor den Füßen liegen." Ungeduldig versetzte sie ihm einen derben Stoß. Nur ein schwaches Stöhnen war die Antwort.
„Na gut!" Sie beugte sich zu ihm nieder und wollte ihn eben tüchtig rütteln, darauf gefaßt, daß ihr eine Wolke von Alkoholdunst entgegenschlagen würde. Statt dessen nahm sie süßlichen Blutgeruch wahr.
Mit einem Schlag war aller Zorn verflogen. Alanna kniete sich hin und schob behutsam den dichten Pelz von den Schultern des Fremden. Ihr stockte der Atem, als sie bemerkte, daß sein ganzer Arm rot von Blut war. Sie tastete nach dem Puls.
„Immerhin ist er noch am Leben", murmelte sie. „Und mit Gottes Hilfe und ein bißchen Glück soll es auch dabei bleiben."
Gerade als sie nach ihren Brüdern rufen wollte, umklammerte er ihr Handgelenk, und sie sah, daß er die Augen geöffnet hatte. Sie waren grün mit einem leicht blauen Schimmer und ließen einen an das Meer denken. Jetzt freilich verrieten sie, daß der Mann Schmerzen litt. Sofort empfand Alanna Mideid und beugte sich näher zu ihm, um ihm zu helfen. Dabei griff sie vergeblich haltsuchend ins Heu, weil er sie aus dem Gleichgewicht brachte und zu sich herunterzog, so daß sie beinahe auf ihm lag. Sein Körper strahlte glühende Hitze aus. Alannas empörten Ausruf erstickte der Fremde mit seinen Lippen.
Es war ein kurzer, doch erstaunlich fester Kuß. Dann sank der Kopf des Verletzten kraftlos zurück in den Heuhaufen. Er blickte sie mit seinen blaugrünen Augen an, hob eine Braue und schenkte ihr ein flüchtiges und ziemlich keckes Lächeln.
„Na, immerhin bin ich noch nicht gestorben", sagte der Fremde mit leiser Stimme.
„Lippen wie die Ihren gibt es wohl kaum in der Hölle."
Wenn dies etwa ein Kompliment sein sollte, so hatte sie schon bessere gehört, dachte Alanna und versuchte, ihrer Überraschung Herr zu werden. Ehe sie ihm dies aber sagen konnte, waren seine Sinne bereits wieder geschwunden.
2. KAPITEL
Er trieb jetzt wie in einem aufgewühlten Meer aus Schmerzen. Ein guter Schuß Whiskey wärmte ihm den Magen und vernebelte seine Sinne. Trotzdem erinnerte er sich an einen betäubenden Stich, an ein glühend heißes Messer, das ihm ins Fleisch geschnitten hatte, und an derbe Flüche, die auf ihn herabgeprasselt waren. Dann umschloß eine warme Hand trostvoll die seine, hielt ihn, und er fühlte wohltuend kühle Tücher auf der fiebernden Stirn. Dann mußte er eine gräßlich schmeckende Flüssigkeit schlucken.
Er schrie auf. Hatte wirklich er aufgeschrien? War jemand gekommen, jemand, der weiche Hände hatte, eine sanfte Stimme, jemand, von dem ein leichter Lavendelduft ausströmte, und hatte beruhigende Worte geflüstert? War es nicht eher Musik gewesen als eine Frauenstimme, so leise und melodisch? Ein schottisches Lied?
Schottland! War er in Schottland? Das konnte nicht sein, denn als sie wieder zu ihm sprach, vermißte er das vertraute gerollte „R" und hörte statt dessen einen irischen Akzent.
Das Schiff! War es vom Kurs abgekommen und hatte ihn nach Süden getragen statt zurück in die Heimat? Er erinnerte sich an ein Schiff. Aber es hatte im Hafen vor Anker gelegen. Lachende Männer mit geschwärzten und verschmierten Gesichtern schwangen Äxte. Der Tee. Dieser verdammte Tee! Nun wußte er wieder alles, und das ließ ihn aufatmen. Dann war er angeschossen worden.
Dann kam der Schnee und mit ihm die Schmerzen. Eine Frau hatte ihn danach aufgeweckt, eine schöne Frau. Was hätte sich ein Mann Besseres wünschen können, als von einer schönen Frau aufgeweckt zu werden, sei es zum Leben oder zum Sterben? Der Gedanke machte ihn lächeln, und er öffnete die schweren Lider.
Mochten Träume auch noch so vergänglich sein, dieser jedenfalls hatte seine angenehmen Seiten gehabt.
Jetzt erst bemerkte er sie. Sie saß am Fenster an einem Webstuhl in der Sonne. Das helle Licht ließ ihr Haar leuchten. Schwarz war es, so schwarz wie das Gefieder eines Raben im Walde. Sie trug ein schlichtes blaues Wollkleid und darüber eine weiße Schürze. Er stellte fest, daß die Frau gertenschlank war und mit geschickten Händen das Schiffchen bediente. Mit regelmäßigem Klicken wob sie einen rot-grün gemusterten Stoff. Sie sang leise bei dieser Arbeit, und er erkannte die
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