Historical Weihnachtsband 1993
nicht eben billig gewesen war.
Alanna wußte, daß sie in allem die richtige Auswahl getroffen hatte, auch, was das Weihnachtsmahl betraf. Ihr lag so viel daran, die Familie zusammenzuhalten, ihr Sicherheit und häusliches Glück zu bieten.
Das Stalltor war nicht verriegelt. Ärgerlich zog sie es hinter sich zu. Immerhin war es besser, sie hatte es offen gefunden als etwa der Vater. Der hätte für den Jüngsten, für Brian, ein heftiges Wort gehabt. Beim Eintritt schob Alanna die Kapuze zurück und griff ganz mechanisch nach einem der Eimer, die neben der Tür hingen. Hier drinnen war es ziemlich dunkel, und Alanna entzündete eine Laterne. Nach dem Melken würden den Brüdern das Vieh füttern und den Stall säubern, bevor sie die Eier holte und den Männern ein herzhaftes Frühstück bereitete.
Die junge Frau summte leise vor sich hin, während sie den breiten Mittelgang entlangging, und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen. Ein fremdes Pferd stand mit hängendem Kopf offensichtlich erschöpft neben der scheckigen Kuh.
„Gerechter Gott!" Alanna fuhr sich mit der Hand zum Herzen, das auf einmal wild hämmerte. Das Pferd schnaubte, als wollte es sie begrüßen, und begann auf der Stelle zu treten. Wo es ein Pferd gab, konnte der Reiter nicht weit sein. Mit zwanzig Jahren war Alanna nicht mehr jung oder ahnungslos genug, um etwa anzunehmen, alle Fremden kämen in guter Absicht und bedeuteten für eine Frau, die allein war, keine Gefahr. Nun hätte sie kehrtmachen und davonlaufen oder nach dem Vater und die Brüder rufen können. Aber mochte Alanna auch Michael Flynns Namen tragen, so war sie doch eine geborene Murphy. Und die Murphys zeigten so schnell keine Angst.
Mit hocherhobenem Kopf setzte sie ihren Weg fort und sagte laut: „Wer sind Sie, Sir, und was suchen Sie hier?"
Erneutes Schnauben der Stute war die einzige Antwort. Alanna trat näher und streichelte dem Tier die Nüstern. „Du scheinst ja einen recht nachlässigen Herrn zu haben, der dich naß und gesattelt einfach so stehen läßt." Zornig über eine solche Behandlung des Tieres stellte sie den Eimer nieder und erhob die Stimme noch mehr. „Heraus mit Ihnen! Sie befinden sich hier auf Murphys Grund und Boden."
Die Kühe muhten. Eine Hand in die Hüfte gestemmt, sah sich Alanna um, bevor sie weitersprach. „Niemand macht Ihnen einen Vorwurf, daß Sie sich vor dem Schneesturm hierher geflüchtet haben, und Sie können auch ein anständiges Frühstück haben. Doch warum behandeln Sie Ihr Pferd derartig schlecht?"
Als sie immer noch keine Antwort bekam, wunderte sich Alanna sehr. Dann begann sie selbst, dem Tier den Sattel abzunehmen. Dabei stolperte sie beinahe über ein Paar Stiefel. Sie blickte erstaunt darauf nieder und stellte beiläufig fest, daß es sich sogar um sehr gute Stiefel handelte. Sie ragten aus der Box der gescheckten Kuh, und das feine braune Leder war von Schnee und Schlamm fleckig geworden. Alanna trat näher und bemerkte nun den Fremden in seiner wettergegerbten Büffellederkleidung, der regungslos dort im Heu lag. Was für ein stattlicher Mann!
Vorsichtig kam sie noch dichter heran, musterte die schmalen Hüften, den kostenbaren Ledergürtel. Über der Jacke trug der Schlafende einen schweren Pelz.
Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen so gutaussehenden Mann in dieser Gegend bemerkt zu haben. Und da er sich ihren Stall als Zufluchtsort ausgesucht hatte, fand Alanna nichts dabei, sich ihn erst einmal richtig anzuschauen. Er ist sehr groß, stellte sie fest, als sie die Laterne hochhielt und ihn eingehend betrachtete.
Größer als ihre Brüder aufjeden Fall. Sie beugte sich über ihn, ließ den Blick über das dunkle Haar gleiten. Es war nicht richtig braun,
sondern von dunklem Rost, beinahe wie das Fell von Brians Fuchswallach. Der Fremde trug keinen Bart, aber jetzt war das Gesicht von Stoppeln bedeckt. Sehr ansprechend, dachte Alanna mit echt weiblichem Wohlgefallen, ein ausdrucksvolles Gesicht mit festgefügten Zügen, fast ein wenig aristokratisch durch die hochgewölbten Brauen und den markanten Schnitt. Genauso stellte man sich wohl einen Mann vor, bei dessen Anblick ein Frauenherz höher schlug. Aber das war es nun ganz und gar nicht, was sie interessierte. Sie machte sich nichts aus derartigen Gedanken. Ihr war bloß daran gelegen, daß dieser Mensch aufstehen und ihr aus dem Weg gehen sollte, so daß sie endlich anfangen konnte, die Kuh zu melken.
„Sir?" Sie stieß seinen Stiefel mit der
Weitere Kostenlose Bücher