Historical Weihnachtsband 2010
diesem Herrn gehörende Leibeigene, niemals einem Edelmann widersprechen durfte. Nichts, was ihr Herr ihr oder anderen gegenüber sagte oder tat, durfte sie anzweifeln.
Nein, Gavin war entsetzt, weil sie die Wahrheit sprach.
Ihm fiel nichts ein, was er hätte erwidern können. So drehte er sich um und ging. Wie sie es verlangt hatte, ließ er sie zurück, damit sie die Burg allein betreten konnte. Orricks Spiel begann aus dem Ruder zu laufen, und Gavin wusste nicht, wie er es wieder unter Kontrolle bekommen sollte. Und trotzdem musste es ihm irgendwie gelingen.
Er wandte sich zum Tor. Doch anstatt in den Burghof zu gehen, folgte er einem Pfad, der zur Klippe führte, von wo aus er die hohen Meereswellen sehen konnte, die wütend gegen den Strand donnerten. Gavin musste sich an einen Felsen klammern, um nicht den steilen Weg hinunterzurutschen, der zum Strand führte. Der Wind wehte hier stärker als zwischen den Bäumen. Er konnte sehen, dass sich im Westen Sturmwolken zusammenballten und den Himmel verdunkelten. Die Alten hatten recht – was den Sturm anging, so war ihnen nur eine kurze Ruhepause vergönnt worden. Bevor er wieder mit aller Kraft losbrach, gab es jetzt weit wichtigere Aufgaben zu erledigen. Deshalb beschloss Gavin, seine Gewissensprüfung auf später zu verschieben. Aber er würde mit Orrick reden und die Sache klären.
6. KAPITEL
„Dein Spiel hat ein Ende, mein Freund. Ich mache nicht länger mit. Ich lasse mich nicht in dem Netz fangen, mit dem du mich umgarnst.“
Gavin knallte die Tür zu Orricks Gemach hinter sich zu. Er blieb davor stehen und wartete auf eine Reaktion seines Freundes. Orrick stand an einem der verglasten Fenster und schaute hinaus. Gavin ging zu ihm hinüber und beobachtete, wie der Regen all jene Dorfbewohner durchnässte, die noch nicht in der Burg Schutz gesucht hatten. Orrick gab ihm keine Antwort. Also attackierte er ihn weiter. „Sobald das Wetter sich wirklich ändert, kehre ich nach Hause zurück. Ich fürchte, ich habe die Lust verloren, bis zur Jahreswende hierzubleiben.“
„Wusstest du eigentlich, dass ich von diesem Fenster aus bis zur südlichen Baumgrenze sehen kann?“
Gavin gab auf. Er trat zu Orrick und sah hinaus. Sie stand noch immer dort, allein, und der Regen prasselte auf sie nieder. Er wusste nicht, ob ihr kalt war, oder ob sie die Nässe spürte. Elizabeth rührte sich nicht. Sie hatte die Arme um sich geschlungen, aber sonst gab sie kein Lebenszeichen von sich. Gavin trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und beschwor sie in Gedanken, doch hineinzugehen, dem immer schlimmer werdenden Wetter zu entfliehen. Gerade als er die Grenzen seiner Geduld erreicht hatte, erwachte sie zum Leben, blickte um sich und eilte zum Tor. Erleichtert atmete er auf.
„Hast du etwas über Elizabeth erfahren, das dich beunruhigt? Ist es das, was dich bedrückt, Gavin?“ Orrick reichte ihm einen Becher Bier. „Erzähle mir, was du herausgefunden hast.“
Gavin nahm einen tiefen Schluck und dachte über die Frage nach. Eigentlich hatte er mehr über sich und seine eigenen Grenzen herausgefunden als über die junge Frau. Er hatte gelernt, dass er Menschen nicht so bedenkenlos benutzen konnte wie andere. Vielleicht war das der Grund, warum er sich besser auf den Kampf als auf List und Strategie verstand. Er hatte gelernt, gerne einem Freund zu helfen. Und er konnte dabei kein unschuldiges Wesen verletzen. Und unschuldig war Elizabeth, daran hatte er keine Zweifel.
Außerdem hatte Gavin gelernt, dass er tatsächlich imstande war, sich noch einmal in seinem Leben zu verlieben.
Als ihn diese Erkenntnis bis ins Innerste traf, umklammerte er den Becher in seiner Hand so fest, dass er ihn beinahe verformt hätte. Wenn Gavin auch behauptete, Orrick würde seine Leute verwöhnen, so wusste er doch, dass er selbst das weichere Herz besaß. Und dass Elizabeth mit ihrem zutiefst unschuldigen Wesen und ihrer Verletzlichkeit es erobert hatte. Was, zum Teufel, sollte er jetzt nur machen? Er war verliebt in die Dorfhure? War er völlig verrückt geworden?
„Gavin?“ Orricks leise Stimme unterbrach ihn in seinen Gedanken.
„Sie stammt aus York, war aber seit fast zwei Jahren nicht mehr dort. Vermutlich ist sie von vornehmer oder adeliger Geburt, aber vielleicht unehelich geboren. Und“, fügte er hinzu, „ich glaube, sie wird das Leben, dass sie lebt, nicht mehr lange ertragen.“
„Hat sie wieder gedroht, sich das Leben zu nehmen? Sie schwor mir, den Gedanken
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