Historical Weihnachtsband 2010
will.“
Orrick schnappte nach Luft, und Gavin fragte sich im Stillen, wann ihm dieser Einfall eigentlich gekommen war. Aber es gäbe Schlimmeres. Elizabeth war jung genug, aber nicht mehr zu jung. Er konnte sie beschützen und ihr einen Ort zum Leben anbieten. Mit etwas Ermutigung und Toleranz würde die unter ihrer tiefen Angst verborgene Persönlichkeit schon zum Vorschein kommen. Seine jetzigen Bedürfnisse waren nicht die gleichen wie damals, als er Nessa heiratete. Und die Liebe, die er für Elizabeth empfand, unterschied sich sehr von der brennenden, naiven Leidenschaft seiner Jugend.
„Ich befürchte, das könnte Probleme geben. So tolerant Margaret auch ist und sein möchte, sie würde Elizabeth doch nie bei Tisch oder in ihrer Begleitung akzeptieren. Keine ihrer Damen würde es. Dass meine Gattin auf meine Bitte darüber hinwegsieht, wenn ein verehrter Gast gewisse Wünsche und Bedürfnisse hat, ist für sie eine Sache. Aber etwas ganz anderes ist, von ihr zu erwarten, dass sie die Dorfhure in ihrem Kreis willkommen heißt.“
Das wusste Gavin. Er wusste es nur zu gut. Ganz gleich, aus welchem Hause Elizabeth auch kam, hier hatte sie in den vergangenen Monaten als Hure gelebt, und als solche würde man sie auch in Erinnerung behalten. Und wenn er sich selbst auch durchaus für fähig hielt, über diese Tatsache hinwegzusehen, weil sie der Vergangenheit angehörte, so wusste er, dass die gesellschaftlichen Regeln viel strenger waren. Jeder hatte seinen Platz, jeder wusste das auch und hielt sich daran. So hatte Gott es nun einmal eingerichtet.
Nur ein Narr stellte diese Ordnung infrage oder versuchte, sie zu ändern. Nur ein Narr, oder ein Mann, der verrückt vor Liebe war, wo er keine Liebe empfinden sollte. Eins von beiden war er. Aber er hatte nicht die geringste Ahnung, was.
„Denk darüber nach, bevor du handelst, mein Freund. Egal, welchen Weg du einschlägst, es wird das Leben vieler Menschen verändern.“ Orrick stand da und sah ihn düster an. „Ich fürchte, es war ein Fehler, dass ich dir diese Herausforderung bot.“ Ein leises Klopfen an der Tür weckte ihre Aufmerksamkeit. „Das ist Elizabeth. Ich habe sie rufen lassen.“
„Und was willst du ihr erzählen? Willst du ihr etwa von meiner Suche nach ihren Geheimnissen berichten?“ Gavin wusste, wie sehr sie alles, was sie und ihre Vergangenheit betraf, vor anderen zu verbergen suchte. Ihre Worte, die sie ihm vor dem Tor entgegengeschleudert hatte, kamen der Wahrheit so nahe. Und es würde sie entsetzlich schmerzen, wenn sie erfuhr, wie nahe. Doch er wollte sie nicht verletzen.
Orrick ging an ihm vorbei zur Tür und legte die Hand auf die Klinke. „Ich will sie an den Handel erinnern, den sie mit mir abgeschlossen hat. Und ich will ihr noch einmal vor Augen führen, welche anderen Möglichkeiten ihr offenstehen.“
Bevor Gavin noch weitere Fragen stellen konnte, öffnete Orrick bereits die Tür und gab den Blick frei auf Lady Margaret. Einige Schritte hinter ihr stand Elizabeth. Die beiden Frauen betraten das Gemach. Ihre stumme Zurückhaltung gab Gavin zu verstehen, dass ihn dieses Gespräch nichts anging. Das Beste war, wenn er sich zurückzog. Also verbeugte er sich höflich vor der Gattin seines Freundes. Als er an Elizabeth vorbeiging, konnte er nicht anders, als ihr zuzuflüstern: „Komm zu mir, Elizabeth. Bitte.“
Elizabeth erschauerte, als sein warmer Atem ihr Ohr streifte, und sie zitterte ob der Leidenschaft, die in seinen Worten und in seiner Stimme lag. Es erschreckte sie, dass er eine solche Reaktion bei ihr hervorrief. Und ihr wurde bewusst, wie zerbrechlich die Mauern waren, die sie so mühsam um sich herum errichtet hatte.
Dann erinnerte sie sich ihrer Worte Lord Gavin gegenüber. Jetzt wusste sie, dass er und Lord Orrick über sie gesprochen haben mussten. Sie hatte ihn beleidigt, und damit auch den Mann, der jetzt vor ihr stand und der ihr gegenüber nur Güte und Fürsorge gezeigt hatte. Sie musste sich entschuldigen. Den nassen Mantel in der Hand wartete sie darauf, dass Lady Margaret das Gespräch mit ihrem Mann beendete. Dann sank sie auf die Knie und beugte den Kopf so tief sie konnte, als Zeichen absoluten Gehorsams.
„Mylord, Mylady, ich bitte Euch wegen meines Verhaltens Eurem Gast gegenüber um Verzeihung.“ Mit gebeugtem Kopf blieb Elizabeth auf den Knien liegen und erwartete ihre Antwort.
„Was hast du Lord Gavin angetan?“ Lady Margarets Stimme klang sanft, aber deswegen keineswegs weniger
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