Historical Weihnachtsband 2010
zur Kliffmauer, die nicht weit von der Burg entfernt war.
Sie wusste nicht, wie lange sie dort gestanden und auf die mächtigen Wellen hinabgestarrt hatte, die sich unter ihr donnernd an den Felsen brachen. Der Wind zerrte an ihrem dünnen Rock und dem abgetragenen Mantel, löste ihre Haare aus dem Tuch, das sie sich um den Kopf gebunden hatte. Sie hatte die Augen geschlossen und tief durchgeatmet.
Ein Schritt.
Nur ein Schritt, und all die Qual hätte ein Ende. Sie würde für niemanden mehr die Hure sein müssen. Zwar würde sie ihre unsterbliche Seele dem Verderben opfern, doch der Friede, welchen ihr diese schreckliche Entscheidung versprach, lockte sie.
Aber durfte sie das tun? War ihr Leben, das sie jetzt führte, nicht die Strafe für ihre Sünden? War die Flucht aus diesem Elend wirklich die ewige Verdammnis wert?
Ein Schritt blieb ihr noch zu tun.
Noch heute wusste sie nicht, ob sie schon den Fuß gehoben hatte, um diesen Schritt zu tun, oder nicht. Doch Orricks starker Arm um ihre Taille verhinderte ihren Sturz. Das Nächste, an das sie sich erinnerte, war, dass sie zum ersten Mal seit Monaten warm und trocken erwachte. Orrick und Silloth boten ihr Zuflucht, und sie nahm sie dankbar an. Aber nicht, ohne dafür zu bezahlen.
„Elizabeth?“ Seine tiefe Stimme weckte sie aus ihren Erinnerungen. Sie musste einige Male blinzeln, bis sich der Nebel der Vergangenheit wieder lichtete.
„Aye, Mylord?“ Sie merkte, dass ihre Kehle trocken geworden war, und schluckte einige Male. „Wie soll ich mich denn entscheiden können?“
„Wir wissen nicht, warum du dich auf diese Weise selbst bestrafst, und das geht uns auch nichts an. Aber du hast dich nun verändert, hast dich erholt und bist in einem gesünderen Zustand als damals, als du hier ankamst. In diesen letzten Wochen bist du wieder zu Kräften gekommen. Es ist Zeit, eine Entscheidung zu treffen.“
„Welche Wahl habe ich denn, Mylord. Mylady?“, fragte sie. „Ihr seid der Herr hier und trefft die Entscheidungen. Ich schulde Euch so viel. Ich werde tun, was Ihr mir befehlt.“
„Es ist die Zeit der Geburt unseres Herrn, eine Zeit, in der wir wieder einmal unser Leben überprüfen, Elizabeth“, sagte Lady Margaret ruhig. „Wenn du es wünschst, würde Lord Orrick es dir im Frühling ermöglichen, bei meiner Nichte im Kloster der Gilbertinen nahe Carlisle zu leben. Dort könntest du in ihrer Laiengemeinschaft leben und arbeiten, oder, wenn du dich berufen fühlst, die Gelübde ablegen und den ehrwürdigen Schwestern beitreten.“
„Du kannst auch hierbleiben“, fügte Lord Orrick hinzu. „Aber wenn du das tust, musst du eine andere Arbeit verrichten.“
Eine andere Arbeit? Aber sie war doch eine Hure. Wozu war sie denn sonst noch gut? Die anständigen Leute würden nicht mit ihr verkehren. Sie befürchteten, dass ihre moralische Verkommenheit auf sie überspringen und sie verderben könnte. Nein. Elizabeth schüttelte den Kopf. Das waren die Worte ihres Vaters, nicht die ihren.
Als sie Lord Orrick widersprechen wollte, hob dieser abwehrend die Hand. „Du hast mir nichts über deine Vergangenheit erzählt, aber auch so kann ich erkennen, dass du für ein anderes Leben erzogen wurdest. Immer, wenn einer dich ‚Hure‘ heißt, sehe ich den Schmerz und die Scham in deinen Augen.“ Er hielt inne, ergriff Lady Margarets Hand, und beide sahen Elizabeth an. „Aber wir wissen, dass du keine Hure bist, selbst wenn du es uns oder dir selbst nicht eingestehen willst.“
Gegen ihren Willen begann Elizabeth heftig zu zittern. Ob wegen der Worte oder ihrer eigenen Angst, vermochte sie jedoch nicht zu sagen. Lady Margaret schritt an ihr vorbei zur Tür, öffnete sie und gab jemandem draußen flüsternd einige Anweisungen. Bald wurde eine Decke um Elizabeths Schultern gelegt, und eine von Lady Margarets Dienerinnen führte sie aus dem Zimmer.
„Du musst etwas anderes anziehen, sonst erkältest du dich. Geh mit Lynna und tue, was sie sagt.“
„Aber, Mylord …“ Sie sah zu Orrick zurück, der nur dastand und zusah, wie seine Frau die Situation meisterte. „Er hat mich zu sich gerufen. Lord Gavin …“
„Er lud dich als Frau ein, Elizabeth, nicht als Hure, die auf seinen Wink und Ruf bereitsteht. Tue, was du möchtest.“
Seine Worte machten keinen Sinn für Elizabeth. Wo lag hier der Unterschied? Lord Gavin wollte sie auf eine Art, die ihre Haut kribbeln ließ und ihr Lust machte, Ja zu sagen.
„Ich verstehe nicht, Mylord. Mylady?“
Lynna
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