Historical Weihnachtsband 2010
Nachbarschaft zu spielen. Wenn ihre arme Mutter und ihr armer Vater natürlich gewusst hätten, dass die beliebteste Mutprobe der Kinderbande darin bestand, aufs Kirchendach zu klettern und den First entlangzulaufen, hätten sie ihre Tochter in der Apotheke eingesperrt.
Als Rosemary auf einer Höhe mit dem Fenster war, schätzte sie die Maße des Fensterbretts ab. Sie stellte fest, dass es zwar schmal, aber begehbar war. Sie beugte sich vor, stellte einen Fuß auf das Sims und zog das Messer aus seiner Scheide. Die Spitze der Klinge passte zwischen die beiden Hälften der Läden und rührte an den Metallhaken, der sie von innen zusammenhielt. Zwei rasche Drehungen ihres Handgelenks, und sie hatte den Haken nach oben gedrückt.
Die Läden öffneten sich und schwangen auf gut geölten Angeln nach innen. Während sie sich am Fensterflügel festhielt, stieg sie auf den Sims und sah vorsichtig ins Innere des Raumes. Der Schein eines Kaminfeuers hellte die Dunkelheit ein wenig auf. Das hier musste Jaspers Kontor sein, denn unter dem Fenster stand ein Tisch, der mit Papierstapeln und Rechnungsbüchern bedeckt war.
Vorsichtig, damit sie nichts durcheinanderbrachte, schlüpfte Rosemary durch das Fenster, sprang auf den Tisch und dann auf den Boden. Er war mit einem dicken Teppich bedeckt. Sommerville musste wirklich reich sein, wenn er seinen Vogt mit solchem Luxus ausstatten konnte. Die weiche Wolle schluckte jedes Geräusch ihrer Schritte, als sie zur Tür schlich, die sie auf der anderen Seite des Raumes schwach erkennen konnte. Auf ihrem Weg kam sie an zwei hochlehnigen Sesseln vorbei, die vor dem Kamin standen, und einer Wand, an der stabil aussehende Truhen aufgereiht waren. An jeder glänzte ein schweres Schloss.
Ob sie wohl voller Münzen und Juwelen waren? Wäre sie wirklich eine Diebin, hätte sie versucht, die Schlüssel zu finden, dann die Truhen geöffnet und sie geleert. Aber sie wollte nur das, was ihr gehörte.
Erstaunlicherweise war die Tür nicht verschlossen. Entweder war Master Jasper unvorsichtig oder so eingebildet, zu glauben, das Lager wäre einbruchsicher. Was bewies, wie sehr er sich irrte, denn das Gebäude konnte sogar von einer Frau geknackt werden.
Schmunzelnd öffnete sie die Tür. Der muffige Geruch nach Wolle und der scharfe Duft von Gewürzen bewiesen, dass Lord William mit den unterschiedlichsten Waren handelte. Rosemary war vorsichtig. Sie sah, dass das schwache Licht des Feuers nur bis auf die ersten Stufen fiel. Es reichte nicht aus, um ihr den Weg zu zeigen. Unter ihr und um sie herum gähnte der weitläufige Lagerraum wie ein riesiger, schwarzer Schlund. Die kalte, mit Gerüchen geschwängerte Luft schien vor gedämpfter Erwartung zu vibrieren.
War dort unten jemand? Nein, sie hätten sich bemerkbar gemacht, als sie die Tür öffnete. Rosemary kehrte zum Amtszimmer zurück, nahm eine Kerze vom Tisch und zündete sie an der Glut im Kamin an. Seltsam, wie ein nur schwach flackerndes Licht einem doch Vertrauen einflößen konnte.
Zurück auf der Treppe hielt sie die Kerze hoch. Ihre schwachen, blassen Strahlen konnten die entfernten Wände des Lagerhauses nicht erreichen. Doch sie glitten über ein Meer von Handelswaren. Von ihrem Besuch am Morgen erinnerte sie sich noch an ordentliche Reihen von Kisten, Tonnen und Fässern, die auf den Transport zu Käufern in London und darüber hinaus warteten. Die Schiffsladung, die auch ihre Myrrhe enthielt, lag einen Gang von dem großen Eingangsportal entfernt und war mit Segeltuch bedeckt. Dorthin war nämlich Master Jaspers Blick gegangen, als Rosemary sich ihm vorgestellt hatte.
Sie entdeckte den mit Segeltuch bedeckten Stapel, eilte die Treppe hinunter und kniete sich nieder, um unter das Tuch zu schauen. Da standen ein Dutzend kleine Truhen. Sie waren zusammengebunden und jede mit einem stabil aussehenden Schloss gesichert.
„Verdammt“, murmelte Rosemary. Gebe Gott, dass Master Jasper nicht auf die Idee kam, vor Morgengrauen zurückzukehren, denn die Zeit bis dahin würde sie brauchen, um die Kästen zu öffnen und ihre Myrrhe zu finden. Sie stellte den Kerzenhalter auf den festgestampften Boden, zog das Messer aus dem Gürtel und begann das Schloss der obersten Truhe zu bearbeiten.
Ein fast unhörbares Rascheln hinter ihr warnte Rosemary, dass sie nicht allein war. Erschrocken hielt sie die Luft an und drehte sich um.
Zu spät.
Ein langer Arm packte sie um die Taille und zerrte sie gegen einen Körper, der hart wie Fels war.
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