Historical Weihnachtsband 2010
nehmen. Doch seine starre Haltung ließ sie die Distanz wahren. „Ich weiß, wie hoffnungslos Ihr Euch gefühlt haben müsst.“
„Sagt so etwas nicht.“ Er sah sie an. In seinen Augen schimmerten ungeweinte Tränen. Wahrscheinlich hatte er bis jetzt nicht um seine Ella weinen können.
„Doch, ich tue es“, erwiderte Rosemary sanft. „Vor sieben Jahren wurden meine Eltern vom Blutfieber erfasst, das in jenem Dezember in der Stadt ausbrach. Ich selbst habe sie gepflegt. Und ich war überzeugt, dass ich allein sie würde retten können, denn meine Mutter hatte mich alles gelehrt, was sie über die Heilkunst wusste. Und sie hatte mir gesagt, dass ich höchst geschickt darin sei.“ Sie senkte den Kopf und betrachtete ihre Hände. „Aber nicht geschickt genug. Sie starben innerhalb von zwei Stunden. Mutter zuerst, dann Vater.“
„Rosemary.“ Er ergriff ihre Hände und drückte sie. „Ich bin überzeugt, dass Ihr alles Menschenmögliche getan habt.“
Sie hob den Blick. Ihre Tränen ließen sie sein Gesicht nur verschwommen erkennen.
„Ich versuchte, ihnen zu helfen. Aber ich habe versagt.“
„Mein Gott, Ihr wart doch erst – wie alt? – dreizehn? Und in diesem Winter damals forderte das Fieber viele Opfer.“
„Aye, aber ich werde mich immer fragen, ob ich meine Eltern nicht durch meinen Stolz dem Tode weihte. Hätten sie überlebt, wenn ich einen anderen Apotheker oder sogar einen Arzt gerufen hätte?“
Er umfasst ihre Hände fester. „Das könnt Ihr nicht wissen.“
„Nein, das kann ich nicht. Ich habe lernen müssen, damit zu leben.“ So wie du lernen musst, mit Ellas Tod zu leben, dachte sie. Doch sein Kummer war zu groß für solche Phrasen. Sie blinzelte ihre Tränen fort. Sie waren nur ein Teil des Stroms von Tränen, den sie wegen ihres Verlusts vergossen hatte. „Anfangs war es sehr hart. Ich vermisste sie so sehr. Es war, als gäbe es in meinem Leben, in meinem Herzen nur noch eine große Leere.“
„Aye“, flüsterte er. Er sah sie an, und in seinem Blick lag die gleiche Qual. „Mir ging es genauso. Und ich glaubte, keiner könne mich verstehen. Ella zu verlieren war die Hölle, beide Eltern zu verlieren … Gott, es tut mir so leid.“ Er streckte die Hände nach ihr aus, und Rosemary ließ seine Umarmung zu. Zu spüren, wie sich seine Arme um sie schlossen, erschien ihr so natürlich wie das Atmen. Einen Moment lang standen sie bewegungslos in dem stillen, dämmrigen Winkel der Werkstatt. Sie waren durch ein Band verbunden, das über das Körperliche hinausging. Sein unausgesprochenes Mitleid milderte ihren Schmerz, wenn auch nicht ihre fortdauernde Schuld. Gerne hätte sie ihm den Frieden gebracht, aber den musste er in sich selbst finden. Sie hob den Kopf und murmelte: „Es tut mir leid, ich habe Euch ganz nass geweint.“
Sie war noch bestürzter, als sie sah, dass er nicht geweint hatte.
„Das muss es nicht.“ Er nahm ihr Gesicht in die Hände und wischte mit den Daumen die Tränen fort. „Ihr habt viel verloren.“
„Meine ganze Welt. Zumindest schien es so.“ Es war ein beruhigendes Gefühl, seine Hand auf dem Gesicht zu spüren. Aber auch ein erregendes.
„Wart Ihr allein?“ Seine Stimme klang leise und rau. Und seine Augen blickten irgendwie anders, dunkler und eindringlicher.
Wie hypnotisiert nickte sie. „Hätte es George Treacle nicht gegeben, ich wäre wirklich verloren gewesen. Er sorgte für mich und schickte sogar einen seiner eigenen Angestellten, damit er die Apotheke führte, bis sein Brief meinen Onkel in Malta erreichte und Percy zurückkehrte, um mich großzuziehen.“
„George war ein guter Freund von uns beiden.“ Ganz normale Worte, abwesend gesprochen. Sein Blick glitt von ihren Augen zu ihrem Mund.
Er war kurz davor, sie zu küssen. Rosemarys ganzer Körper schien vor Erwartung zu vibrieren. Schlagartig wurde ihr brennend heiß bewusst, wie dicht sie beieinanderstanden. Sein Arm lag um ihre Taille, ihre gespreizten Hände ruhten auf seiner Brust. Unter ihren Handflächen fühlte sie sein Herz rasen, während sein Gesicht ihr immer näher kam. Näher. Näher.
Wie von selbst öffnete sie die Lippen. Ein leiser Seufzer wehte zwischen ihnen, als sein Mund zart über den ihren strich, leicht und schwebend wie Schmetterlingsflügel. Oh, wie wunderbar, dachte sie, als sie ihr Blut immer heißer spürte und ihr war, als würde sie zerschmelzen. Voll Verlangen nach mehr, und voll Sehnsucht nach seiner Nähe stellte sie sich auf die
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