Hitzschlag: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
flirrender Nervosität erfüllte. Dass Verhoeven und sie so weit auseinander standen, war hingegen Absicht. Zum einen verschaffte ihnen eine größere räumliche Entfernung auch einen größeren Blickwinkel. Zum anderen war es eine unbestreitbare Tatsache, dass die Leute eine Einzelperson weitaus schlechter zuordnen konnten, als wenn man in exakt derselben Zweierkonstellation auflief wie bei einer vorangegangenen Gelegenheit. Und ihnen war durchaus daran gelegen, dass man sie nicht auf den ersten Blick als das Ermittlerteam identifizierte, das sie waren.
Um auch wirklich alles zu vermeiden, das irgendwie Aufmerksamkeit erregen konnte, hatten sie zudem auf jedwede Verkabelung verzichtet.
»Wenn ich den Artisten sehe, und Sie stehen zu weit weg«, hatte Winnie Heller bei der Einsatzbesprechung am Morgen gescherzt, »dann tippe ich mir einfach gegen die Stirn, okay?«
»Sie meinen wie beim Militär?«
»Nein, wie wenn man jemandem einen Vogel zeigt.«
Verhoeven hatte gelacht. »Dann nehme ich das also nicht persönlich, ja?«
Und Bredeney, der irgendwann ohne äußeren Anlass einfach angefangen hatte, sie zu duzen, hatte ihr auf die Schulter geklopft und gesagt: »Hey, da hast du endlich den Freibrief, auf den du gewartet hast, Süße. Ich an deiner Stelle würde ihn nutzen.«
Winnie Heller taxierte einen Mann, der sich in den Schatten der Bäume zurückgezogen hatte, und fragte sich, ob er etwas
zu verbergen hatte oder ob ihm einfach nur die Sonne zu viel war. Er trug keine Kopfbedeckung und ein helles Hemd zu schwarzen Stoffhosen. Sie beschloss, ihn im Auge zu behalten, während sich der Vertreter des Gastronomenverbandes nach wie vor in wohlgestalteten Worthülsen erging.
Die Gesichter seiner Zuhörer wirkten angestrengt. Einige der anwesenden Damen trugen Hut, eine besonders modemutige sogar einen mit Schleier. Sie war sicherlich Mitte sechzig und wirkte mit dem schwarzen Tüll vor ihrem Gesicht wie ein in die Jahre gekommener Filmstar. Winnie Hellers Augen wanderten weiter, und sie bestaunte Couture-Outfits jedweder Couleur. Direkt vor ihr stand ein schwarzes Kostüm mit einem Rock, der gerade so den Hintern seiner Trägerin bedeckte. Zu dem gewagten Stück hatte die Frau mit Rücksicht auf den Anlass schwarze Netzstrümpfe gewählt, die eher auf den Straßenstrich als zu einem Begräbnis gepasst hätten. Ihre Sonnenbrille zierten die diamantenbesetzten Initialen des italienischen Designerduos Dolce und Gabbana, und Winnie ertappte sich bei dem Gedanken, dass Stil keine Frage des Geldes war.
Zu dem, was sie im Stillen »Portners Bekanntenkreis« nannte, gesellten sich eine Reihe von Offiziellen, der Bürgermeister, sein Stellvertreter sowie eine Handvoll Pressevertreter, unter ihnen auch der Kollege von der Abteilung für verdeckte Ermittlung, der unauffällig herumwanderte und praktisch ohne Unterlass Fotos schoss. Außerdem entdeckte Winnie Sybille Nörthling, heute mal nicht in Begleitung eines Kamerateams, dafür jedoch mit grimmiger Entschlossenheit im Blick. Unwillkürlich sah Winnie sich auch nach Jo Ternes um, konnte sie jedoch nirgends entdecken. Stattdessen blieb ihr Blick an Merle Olsens Gesicht hängen. Die Tierärztin war mit ihrer Lebensgefährtin gekommen, die ihre Augen – genau wie Irina Portner – hinter einer tiefdunklen Sonnenbrille verbarg und von Kopf bis Fuß sorgenvolle Unwilligkeit ausstrahlte. Winnie
überlegte, wie sie selbst reagieren würde, wenn ein Mensch, der ihr nahestand, zunächst Opfer einer solchen Gewalttat würde und sich anschließend in die Jagd nach dem Täter verbiss. Und merkwürdigerweise kam sie zu dem Schluss, dass sie ähnlich empfinden würde wie Kira Schönenberg. Auch wenn sie Merle Olsens Wunsch nach Vergeltung – oder zumindest nach Aufklärung – durchaus nachvollziehen konnte.
Als habe sie ihren Blick erspürt, sah Merle Olsen in diesem Moment zu ihr herüber.
In ihren Augen las Winnie Wachsamkeit und eine beinahe fiebrige Entschlossenheit. Hoch aufgerichtet und kerzengerade stand sie da – fast wie eine antike Rachegöttin.
Sie wird nicht eher ruhen, bis wir ihn haben, dachte Winnie mit einem Anflug von Beklemmung, und wenn wir nicht aufpassen, bringt sie am ersten Verhandlungstag eine Waffe mit in den Gerichtssaal und knallt ihn einfach über den Haufen. Sie ist genau der Typ dafür …
Winnie schluckte und sah wieder Irina Portner an. Die junge Witwe schien nicht mehr ganz so verkrampft wie noch vor wenigen Minuten. Sie
Weitere Kostenlose Bücher