HMJ06 - Das Ritual
während er aus dem Wagen sprang und den regennassen Fußweg überquerte. Er näherte sich der schmalbrüstigen Ladenfront und erkannte, dass keins der Worte, die er sah, aus dem Englischen stammte. Nicht einmal die Schlagzeilen der verschiedenen Zeitungen. Er konnte auch nicht entscheiden, ob die Schriftzeichen chinesisch, koreanisch oder vietnamesisch waren. Es war aber auch nicht von Bedeutung. Er hatte ohnehin vor, nur so zu tun, als wollte er sich in dem Laden umsehen. Vielleicht kaufte er ein Päckchen Kaugummis.
In der Türöffnung wich Jack zur Seite aus, als sich ein kleiner asiatischer Junge mit einer weißen Plastikeinkaufstüte in der Hand an ihm vorbeidrängte. Er beobachtete, wie der Junge unter der Markise stehen blieb, einen kleinen roten Regenschirm öffnete und dann im Regen verschwand.
Das Kind ist viel zu jung, um so spät alleine unterwegs zu sein, dachte Jack.
Er trat ein, lächelte und nickte der verhutzelten alten Asiatin hinter der Theke zu und sagte: »Ich möchte mich nur mal umschauen.«
Sie deutete eine Verbeugung an, machte eine einladende Handbewegung und sagte etwas, wovon er nicht eine einzige Silbe verstand.
Jack blickte zum Schaufenster. Durch den Schmutz und den Regen konnte er erkennen, dass der Buick sich wieder in Bewegung gesetzt hatte.
Verdammt!
Er warf einen Dollar auf die Theke und angelte sich auf dem Weg nach draußen eine Zeitung vom Ständer. Während er sie sich als behelfsmäßigen Regenschutz über den Kopf hielt – und um sein Gesicht vor Bellitto und seinem Mitfahrer zu verbergen –, rannte Jack über den verlassenen Bürgersteig. Dabei hielt er nach rechts und links Ausschau.
Wo war der Junge?
Er sah etwas am Bordstein, nicht weit von der Stelle, wo Bellittos Fahrzeug mit laufendem Motor stand, zwischen zwei Wagen. Der Buick entfernte sich, doch Jacks alarmierte Instinkte zwangen ihn, einen kleinen Umweg zu machen. Er rannte hinüber zu der Stelle und sah, was es war: ein kleiner roter Regenschirm, der umgedreht in der Gosse lag, während sich in der Wölbung Regentropfen sammelten. Aber kein Kind.
Hatten Bellitto und Mr. Gorilla ihn mitgenommen? Jack ging in die Knie und sah unter den geparkten Fahrzeugen nach, fand dort aber nichts außer Wasserpfützen und Ölflecken. Dann erhob er sich und blickte den roten Rücklichtern des Buicks nach.
Scheiße! Das musste es sein! Diese beiden Mistkerle hatten den kleinen Jungen geschnappt.
Zähneknirschend hastete Jack zu seinem Wagen.
Jetzt erkannte er, weshalb Edward darauf bestanden hatte, ausgerechnet Jack zu engagieren, um seinen Bruder weniger vor anderen Leuten als vielmehr vor sich selbst zu schützen.
Seine Angst hatte sich auf das bezogen, was einem unschuldigen Opfer zustoßen könnte. Er musste wissen, dass sein Bruder ein Mistkerl war. Und dass er vorhatte, in allernächster Zukunft zuzuschlagen.
Verdammt noch mal! Warum hatte Edward nicht einfach die Polizei benachrichtigt? Offensichtlich hatte er die Affäre geheim halten wollen. Wer wollte schließlich schon, dass öffentlich bekannt würde, dass sein Bruder ein Pädophiler ist? Also versuchte Edward, beides zu erreichen – ein weiteres Verbrechen zu verhindern, es aber gleichzeitig unter der Decke zu halten. Wunderbar. Das konnte Jack respektieren. Aber wenn er alle Tatsachen vorher gekannt hätte, wäre er ganz anders an die Sache herangegangen. Er hätte es niemals zugelassen, dass dieser kleine Junge alleine auch nur in die Nähe von Bellittos Wagen gelangte.
Scheiße! Scheiße! Scheiße!
Er sprang in seinen Wagen und fädelte sich mit durchdrehenden Reifen in den fließenden Verkehr ein.
»Wo sind sie?«, murmelte er vor sich hin. Zorn kochte in ihm, während er sich anstrengte, durch die regenverschmierte Windschutzscheibe etwas zu erkennen. Er schlug mit den Fäusten auf das Lenkrad. »Wo zur Hölle sind sie geblieben?«
Er fuhr weiter in Richtung Innenstadt und rollte parallel neben der Auffahrt zur Brooklyn Bridge her, fand die Gesuchten aber nicht. Er tippte darauf, dass sie zu Bellittos Haus zurückkehren würden, und machte kehrt, um den Weg zurückzufahren, den er hergekommen war.
Er ließ seine hochgezogenen, verkrampften Schultern sinken und gestattete sich ein erleichtertes Aufatmen, als er den Buick entdeckte, wie er an Bellittos Block entlangrollte. Doch seine Erleichterung dauerte nur einen winzigen Augenblick. Wer weiß, in welchem Zustand der Junge sich befand oder was sie ihm bereits angetan hatten.
Erneut
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