HMJ06 - Das Ritual
Geistführer rufen, den uralten Mayapriester, den ich unter dem Namen Xultulan kenne.«
Wie auch schon am Sonntag wurden die klaren Glühbirnen am Kronleuchter dunkel, und nur die roten brannten weiter. Erneut entstanden um den Tisch herum tiefe Schatten, die nur vom roten Deckenlicht in Schach gehalten wurden. Jack warf einen verstohlenen Blick zu der kleinen Couch und seinem Kasten, doch er konnte in der Dunkelheit nichts erkennen.
Madame Pomerol begann mit ihrem Summen, dann wackelte sie wieder mit dem Kopf.
Jack konnte sich den Grund für das Summen denken. Damit wollte sie das Geräusch übertönen, das die Klappe in der Wand hinter der Couch möglicherweise verursachte, wenn sie geöffnet wurde. Wahrscheinlich griff Foster gerade in diesem Augenblick nach dem Etui.
Dies war die übliche Verfahrensweise im Jenseits-Business. Man brachte die Brieftasche an sich und filzte sie auf der Suche nach Informationen: Führerschein, Sozialversicherungsnummer, Bankkonto, Adressbuch, Familienfotos. Fosters Kommandozentrale verfügte über einen Fotokopierapparat und eine Schlüsselfräse, genau wie Charlies Steuerzentrum. Innerhalb weniger Minuten konnte er so Foto- und Schlüsselkopien anfertigen.
Wenn der Fernbedienungsschalter noch an Ort und Stelle gewesen wäre, hätte es sicherlich großen Spaß gemacht, die Beleuchtung einzuschalten und Foster sozusagen mit der Hand in der Registrierkasse zu erwischen. Doch Jack hatte diese Nummer bereits durchgespielt. Heute hatte er Größeres vor.
Der Tisch ruckte und schwankte unter seinen Händen, daher fühlte er sich verpflichtet, ein lautes »Hey!« zu rufen.
Und dann drang aus dem Mund der Lady ein dumpfes, widerhallendes Stöhnen. Der Verstärker war eingeschaltet worden.
»O Xultulan! Unter uns ist ein Sucher, der jemanden wiedersehen möchte, der die Grenze überschritten hat, mit dem er aber durch das Blut verbunden ist. Hilf uns, o Xultulan.«
Jack blendete die Stimme der Frau nach Möglichkeit aus und konzentrierte sich auf den Zeitablauf. Foster müsste das Etui jetzt an sich gebracht haben. Er hatte seine Dietriche bereitliegen und bearbeitete nun das Schloss. Jack hatte einen Schlüssel, aber er hatte das Schloss selbst mehrmals probeweise mit einem Dietrich geöffnet – und dabei mit Absicht einige Kratzer am Schloss hinterlassen. Wie erwartet ließ es sich leicht öffnen, Schwierigkeiten machte allein seine geringe Größe. Falls Foster auch nur eine winzige Portion Talent besaß, müssten die Riegel genau jetzt nachgeben.
Und jetzt klappt er den Deckel auf … und erstarrt beim Anblick der in Reihen angeordneten Goldmünzen. Keine reinen Goldbrocken wie der Krügerrand von gestern, sondern numismatische Prachtstücke aus Jacks eigener Sammlung, die viel mehr wert waren als ihr Gewicht in Gold.
Er möchte sie berühren, aber die Plastikscheibe hält ihn davon ab. Er versucht sie aufzuklappen, doch sie gibt nicht nach. Sie ist in ihrer Position fixiert. Aber irgendwo muss es einen Hebel geben, eine Art Schloss, eine Verriegelung, die sich lösen lässt …
»Mein Etui«, sagte Jack, straffte sich und fuhr sich mit nervösen Händen über den Sakko wie ein Mann, der soeben festgestellt hat, dass seine Brieftasche verschwunden ist. »Ich will mein Etui!«
»Bitte beruhigen Sie sich, Monsieur Butler«, sagte Madame Pomerol, plötzlich hellwach und ganz und gar nicht mehr in Trance. »Mit Ihrem Etui ist alles in Ordnung.«
Jack erhob sich von seinem Stuhl. Er legte ein deutliches Zittern in seine Stimme. »Ich will es. Ich muss es sofort zurück haben!«
»Monsieur Butler, Sie müssen sich hinsetzen.« Das war eine Warnung an ihren Mann, seinen Arsch in Bewegung zu setzen und das wertvolle Etui dieses dämlichen Gockels schnellstens auf das Sofa zurückzulegen. »Ich habe Kontakt mit Xultulan, er hat Ihren Onkel gefunden. Sie können sich das Kästchen in ein paar Minuten holen, wenn …«
»Ich will die Box jetzt gleich zurückhaben!«
Jack tat so, als wäre er völlig durcheinander, und ging zuerst in die falsche Richtung – er wollte Foster genügend Zeit lassen, das Etui zu schließen und an seinen Platz zurückzubefördern –, dann fuhr er schwerfällig herum und stolperte in Richtung Sofa.
»Alles okay,« sagte Fosters Stimme in seinem Ohr. »Es ist wieder auf deiner Seite.«
Jack konnte das kleine Sofa in der Dunkelheit nicht sehen, daher vertraute er auf sein Gedächtnis und achtete darauf, heftig dagegen zu stoßen, sobald er es
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