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HMJ06 - Das Ritual

HMJ06 - Das Ritual

Titel: HMJ06 - Das Ritual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Paul Wilson
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du was dazu, Mann?«, fragte er, während er Jacks Tasse auffüllte. »Einen Schuss Brandy gegen den Kater?«
    Julios Name stand vorne auf dem Schaufenster. Er war klein und muskulös und hatte einen bleistiftdünnen Schnurrbart. Und er stank.
    »Ich habe die ganze Nacht keinen Tropfen angerührt«, sagte Jack mit einem Ausdruck gespielter Entrüstung und versuchte, den Geruch zu ignorieren, der plötzlich seine Nase traf. Er hatte seine erste Tasse vorne getrunken, nachdem Julio sie hinter der Bar gefüllt hatte. Dort hatte er den Geruch noch nicht wahrgenommen.
    Julio zuckte die Achseln und wandte sich an den fremden Gast. »Soll ich nachschenken?«
    »Das war sehr nett«, erwiderte Edward mit starkem irischem Akzent.
    Sein Aussehen stand diesem knorrigen Akzent in nichts nach: Seinen knotigen Händen nach zu urteilen war er fünfundsechzig bis siebzig Jahre alt, weißhaarig, stämmig gebaut und hatte ein verschmitztes Funkeln in den blauen Augen.
    Gekleidet war er eher ein wenig abenteuerlich: Oben trug er ein gräuliches T-Shirt, das möglicherweise einmal weiß gewesen und zu oft in der Buntwäsche gelandet war. Mit dem, was er darunter angezogen hatte, hätte er an jeder Beerdigung teilnehmen können: eine schwarze Anzughose – glänzend vom häufigen Tragen – sowie schwarze Socken und Schuhe. Er hatte einen großformatigen Manilaumschlag mitgebracht, der zwischen ihnen auf dem Tisch lag.
    Edward runzelte die Stirn und sog prüfend die Luft ein. Er rieb sich die Nase und hielt Ausschau nach der Quelle des seltsamen Geruchs. Jack glaubte, zum besseren Verständnis etwas sagen zu müssen.
    »Okay, Julio, benutzt du ein neues Aftershave?«
    Julio grinste. »Es heißt Chiquita. Super, nicht wahr?«
    »Aber nur, wenn du ‘ne Terror-Tussi aufreißen willst, die aus Nostalgie auf Tränengas abfährt.«
    »Gefällt es dir nicht?« Julios Gesicht nahm einen beleidigten Ausdruck an. Er wandte sich an Edward. »Wie finden Sie es denn, Kumpel?«
    Edward rieb sich noch einmal die Nase. »Nun ja, ich, ahm …«
    »Haben Sie schon mal Bekanntschaft mit Tränengas gemacht, Edward?«, fragte Jack.
    »Das Vergnügen hatte ich noch nicht.«
    »Nun, ich schon, und Chiquita kommt dem ziemlich nahe.«
    In diesem Augenblick erwachte die alte Wurlitzer-1080-Musikbox im vorderen Teil der Bar mit »Paradise by the Dashboard Light« zu brüllendem Leben.
    Jack stöhnte gequält auf. »Meat Loaf? Noch vor Mittag? Julio, das ist ein schlechter Witz.«
    »Hey, Lou!«, rief Julio und wandte sich zur Bar. »Hast du das gedrückt, Kumpel?«
    Eine rein rhetorische Frage. Jeder im Laden – außer Edward, natürlich – wusste, dass Lou ein ganz besonderes Faible für Meat-Loaf-Songs hatte. Wenn er das nötige Geld hätte und wenn die anderen Stammgäste ihn in diesem Fall nicht vorsorglich erwürgten, würde er sie Tag und Nacht spielen. Eines Abends vor ein paar Jahren hatte er es übertrieben. Er ließ »Bat Out of Hell« einmal zu oft laufen. Ein Schriftsteller aus L. A. – ein harmlos aussehender junger Mann und ein Freund von Tommy, dem Jack etwas Derartiges niemals zugetraut hätte – zog eine .357er aus der Tasche und »tötete« die Musikbox. Kurze Zeit später hatte Julio als Ersatz diese klassische Wurlitzer aufgestellt und wollte auf keinen Fall, dass sie genauso zusammengeschossen würde wie ihre Vorgängerin.
    Lou zuckte die Achseln, grinste und zeigte dabei sechzig Jahre alte Zähne, die sich in neunundfünfzig Jahren Nikotin nahtlos braun gefärbt hatten. »Schon möglich.«
    »Was habe ich dir zu Meat Loaf gesagt, wenn die Sonne aufgegangen ist, hm? Was habe ich gesagt?« Er ging rüber zur Musikbox und zog das Netzkabel heraus.
    »Hey!«, protestierte Lou. »Ich hab einen Haufen Geld eingeschmissen!«
    »Dann hast du’s gerade verloren.«
    Die anderen Stammgäste lachten schadenfroh, während Lou einen leisen Fluch ausstieß und zu seinem Brandy und seinem Bier zurückkehrte.
    »Vielen Dank, Julio«, murmelte Jack.
    Die musikalischen Ergüsse Meat Loafs waren eigentlich an jedem Tag nur schwer zu ertragen – zwanzig Minuten lange Songs, bei denen mindestens während des letzten Drittels die gleichen zwei oder drei Textzeilen ständig wiederholt wurden –, so etwas aber auch noch an einem Sonntagvormittag hören zu müssen … Zu einem Sonntagvormittag passte eher etwas locker Besinnliches in Richtung Cowboy Junkies, zum Beispiel.
    »Also, Edward«, sagte Jack, nachdem er einen Schluck von seinem Kaffee getrunken hatte,

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