HMJ06 - Das Ritual
oben, und von der Decke blätterte der Verputz ab, doch der Geist von Nächstenliebe und Mildtätigkeit, den Charlie allgegenwärtig spüren konnte, verlieh allem ein Strahlen und Glänzen, als wäre es nagelneu. Er hatte gerade die Hälfte seines Sacks Kartoffeln geschält und seine Finger schmerzten. Aber das machte ihm nichts aus. Er litt für einen guten Zweck.
»Ja, Gott sei’s gedankt«, sagte sie. »Er war heute selten gut in Form.«
Charlie blickte von der Kartoffel hoch, die er soeben schälte, um das Girl anzusehen. Dabei überlegte er, was er als Nächstes sagen sollte. Er musste irgendetwas sagen. Er hatte eine halbe Ewigkeit auf die Gelegenheit gewartet, mit ihr allein reden zu können. Jetzt hatte er endlich diese Chance, und sein Geist war wie leer gefegt. Vielleicht lag es an ihrer Schönheit, innerlich wie äußerlich, oder daran, dass ihr offenbar nicht bewusst war, eine Schönheit zu sein.
Sie hatte ihr Haar zu vielen kleinen Zöpfchen geflochten, blickte mit großen braunen Augen in die Welt und zeigte ein Lächeln, bei dem ihm die Knie weich wurden. Unter ihrem weiten Jeansoverall trug sie ein weißes T-Shirt, dessen Latz es nicht schaffte, ihre vollen Brüste zu verhüllen. Er gab sich alle Mühe, sie nicht ständig anzustarren.
Vor seiner Konvertierung hatte es ihm noch nie derart die Sprache verschlagen. Damals war er eine ganz heiße Nummer gewesen, behängt mit Goldketten und Seidenanzügen und stets eine Ladung Schnee und eine Portion Gras vom Besten in der Tasche. Die Frauen, die er damals nur Schlampen oder Schnallen nannte, hatten Gesichter wie aus dem Schminktopf und Klamotten direkt vom Laufsteg. Dazu trugen sie Perücken und große funkelnde Zirkoniumohrhänger. Nichts an ihnen war echt, aber sie waren leicht zu haben. Er brauchte sich nur an sie ranzumachen, ihnen irgendwelchen Stoff anzubieten, damit sie locker wurden, sie mit ein paar öligen Komplimenten einzuwickeln, und schon waren sie unterwegs zu seiner oder ihrer Wohnung.
Er schüttelte den Kopf. Ein Leben voller Sünde. Aber er hatte sein ganzes restliches Leben lang Zeit, alles wieder gutzumachen.
»Sharleen«, sagte eine tiefe Stimme, »macht es dir etwas aus, wenn Charlie und ich uns mal kurz unter vier Augen unterhalten?«
Charlie Kenton hob den Kopf und erkannte Reverend Josiah Sparks, einen imposanten Mann, dessen schwarzes Gesicht dank der weißen Haarmähne und dem weißen Bart, die es einrahmten, noch schwärzer erschien. Er war soeben eingetroffen, nachdem er Priestergewand und Kragen, die er während des Gottesdienstes getragen hatte, gegen ein Arbeitshemd und eine Arbeitslatzhose, wie seine Tochter sie trug, getauscht hatte.
Sharleen warf Charlie einen besorgten Blick zu. »Oh, ahm, natürlich nicht, Daddy.«
Nachdem sie sich zu einem der Kochherde entfernt hatte, musterte der Reverend ihn eingehend durch die dicken Gläser seiner randlosen Brille. »Hast du einmal über die Angelegenheit nachgedacht, über die wir uns unterhalten haben?«
»Ja, Rev. Jeden Tag.«
Reverend Sparks ergriff ein Messer und begann die geschälten Kartoffeln zu vierteln, dann warf er die Stücke in einen Topf. Sie würden in Kürze gekocht und zu Püree verarbeitet werden.
»Und zu welcher Entscheidung bist du gelangt?«
Charlie zögerte. »Noch zu keiner endgültigen.«
»Es ist deine Seele, die auf dem Spiel steht, mein Sohn. Deine unsterbliche Seele. Wie kann es da bei deiner Entscheidung auch nur einen Anflug von Unsicherheit geben?«
»Den gäbe es auch nicht … wenn Lyle nicht mein Bruder wäre, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Es bedeutet gar nichts, dass er dein Bruder ist. Er zieht dich hinab in die Sünde und macht dich bei seinen schlimmen Taten zu einem Komplizen. Du musst dich von ihm lösen. Denk daran: ›Ärgert dich dein Auge, so wirf’s von dir! Es ist dir besser, dass du einäugig in das Reich Gottes eingehest, denn dass du zwei Augen habest und werdest in das höllische Feuer geworfen.‹«
»Worte«, erwiderte Charlie.
»Ja, das sind sie. Die Worte Gottes, überliefert von Matthäus und Markus.«
Charlie sah sich um. Sharleen befand sich außer Hörweite, und in der Nähe war sonst niemand zu sehen. Der Reverend sprach mit leiser Stimme. Das war gut. Charlie wollte nicht, dass die gesamte Kirchengemeinde von seinen Problemen erfuhr. Vor allem Sharleen brauchte nichts zu wissen.
Manchmal fragte er sich, ob er nicht einen Fehler gemacht hatte, mit dem Reverend über Lyles Spiritistennummer
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