HMJ06 - Das Ritual
wie gar nicht. Edward hatte erzählt, sie hätten verschiedene Mütter, aber Jack fragte sich unwillkürlich, ob das nicht auch auf die Väter zutraf. Vielleicht hatte die Mutter eines der beiden mit einem örtlichen Kesselflicker herumpoussiert –oder wer auch immer vor sechzig Jahren das Interesse abenteuerlustiger Frauen in Dublin zu wecken pflegte.
»Guten Abend«, sagte Eli Bellitto. »Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
Jack war von seiner Stimme überrascht. Ein leichter Akzent, aber nicht irisch. Er erinnerte sich, dass Edward erzählt hatte, sie wären getrennt voneinander aufgewachsen. Vielleicht in verschiedenen Ländern?
»Ich wollte mich nur mal umschauen«, sagte Jack.
»Nur zu. Aber bitte denken Sie daran, dass wir um Punkt sechs Uhr schließen, und zwar …« Wie auf ein Stichwort begannen mehrere Uhren zu schlagen. Der Mann zog eine Taschenuhr aus einer Westentasche und ließ den Deckel aufspringen. Er warf einen Blick aufs Zifferblatt und lächelte Jack mit einem Ausdruck erzwungener Freundlichkeit an. » …in genau einer halben Stunde.«
»Ich werde auf die Zeit achten«, versprach Jack.
Auf der anderen Seite des Ladens bemerkte er eine korpulente ältere Frau mit lauter Stimme und einer nicht gerade vorteilhaften Ähnlichkeit mit Richard Beizer. Sie redete auf einen jüngeren rothaarigen Mann ein, während sie ihn durch den Laden führte und auf verschiedene Preisschilder deutete.
Wahrscheinlich eine neue Hilfskraft, dachte Jack.
Er wandte sich ab und tauchte ein in eine Welt aus Büchern, Plaketten, Spiegeln, Kommoden, Tischen, Lampen, Vasen, Skulpturen aus Stein und Holz, Tonschüsseln, Porzellantassen, ausgestopften Vögeln, Fischen und anderen Tieren, Uhren in sämtlichen Formen und Ausführungen und mehr. Was er sah, rangierte zwischen prachtvoll und schäbig, stammte sowohl aus der Alten wie der Neuen Welt, aus dem Fernen Osten und dem Vorderen Orient, aus Adelskreisen oder vom gemeinen Volk, war uralt bis allenfalls unmodern, sündhaft teuer bis spottbillig, Ming-Dynastie bis Depression.
Er verliebte sich auf Anhieb in diesen Ort. Wie lange existierte dieser Laden schon, und warum hatte ihm niemand je davon erzählt? Hunderte Quadratfuß voll gestopft mit einer unüberschaubaren und ausgewählten Ansammlung wirklich schöner Dinge.
Er wanderte durch die Regalgänge, blätterte in Büchern, betrachtete sich in Spiegeln und streichelte andächtig kunstvolle Schnitzereien. In einer Nische blieb er vor einer alten Vitrine aus Eichenholz stehen. Sie hatte einen ovalen Grundriss, war ungefähr eins fünfzig hoch und wies auf allen Seiten facettierte Glasscheiben auf. Das Schränkchen selbst hatte kein Preisschild, und auch die darin ausgestellten Gegenstände waren nicht mit Preisschildern versehen. Sie waren viel jünger als das übrige Inventar und erschienen seltsam fehl am Platze. Was er auf den drei Glasböden sehen konnte, ließ sich am besten als Kinkerlitzchen, Schnickschnack, Nippes und wertloser Tand beschreiben. Kein Stück war älter als zehn oder fünf zehn Jahre und hätte auf jedem Flohmarkt gefunden werden können.
Er inspizierte die Kollektion ein wenig eingehender und sah einen Stapel Pog-Scheiben, einen Rubik’s Cube, einen Koosh-Ball mit violetten und grünen Stacheln, ein tolpatschig aussehendes Beanie Baby, eine rote Corvette von Matchbox, einen grauen Furbie mit rosafarbenen Ohren, eine Sonic-the-Hedgehog-Puppe mit knallroten Turnschuhen, einen winzigen Bart Simpson auf einem noch winzigeren Skateboard und ein paar andere nicht näher definierbare Tschotschkes.
Aber das Stück, das Jacks Neugier weckte, war ein Roger-Rabbit-Schlüsselanhänger. Während sein Blick darüber hinwegglitt, glaubte er für einen kurzen Moment ein Funkeln zu sehen. Nichts Deutliches, nur so etwas wie ein Reflex am Rand seines Gesichtsfeldes. Als er genauer hinsah, gewahrte er nichts Ungewöhnliches. Vielleicht war es nur eine Unregelmäßigkeit in der Sichtscheibe. Altes Glas war des Öfteren fehlerhaft und voller Schlieren und anderen Unregelmäßigkeiten.
Er betrachtete die winzige Plastikfigur und bemerkte, dass die rote Farbe des Overalls und das Gelb der Handschuhe am Ende der ausgestreckten Arme ein wenig abgeschabt waren. Aber was ihn regelrecht fesselte, war das intensive Blau der Augen Roger Rabbits. In Kreuzigungshaltung daliegend, schien er Jack flehend anzustarren. Das war echtes Pathos, was irgendwie nicht passte, denn Roger Rabbit war in seinem Zeichentrickleben
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