Hochsommermord: Kriminalroman (German Edition)
sprechen.«
»Sind Sie sich sicher?«
»Ja.«
Kepplinger war verunsichert. Wenn die Angaben der Kollegin aus dem Streifendienst stimmten, machte Jessen ihm etwas vor. Doch es gab keinen Grund, Lea Thomann zu misstrauen. Und er hatte keine Lust auf irgendwelche Spielchen.
»Vor drei Monaten ist sie aber weggelaufen.«
Jessen kniff die Augen zusammen und sah ihn misstrauisch an. »Woher wissen Sie das?«
»Ist sie weggelaufen oder nicht, nachdem Sie Ihre Frau verprügelt und anschließend im Schlafzimmer eingesperrt haben?«
»Na und? Manu ist zu ihrer Schulfreundin gegangen und war am Abend wieder zu Hause. Was damals war, geht Sie nichts an.«
»Ich möchte herausfinden, was mit Ihrer Tochter passiert ist. Dabei interessiere ich mich für jedes Detail.«
»Machen Sie doch, was Sie wollen.«
Kepplinger hatte keine Lust auf solch eine Unterhaltung und verließ die Wohnung, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.
Mittlerweile war es halb zwölf geworden. Er wollte vor Schulschluss unbedingt noch die Klasse von Manuela besuchen. Außerdem sollte er gegen Mittag wieder zurück in der Dienststelle sein. Brandstätter hatte für halb eins eine erste Besprechung mit dem gesamten Team anberaumt. Er hoffte immer noch darauf, dass sie eine natürliche Erklärung für das Verschwinden der Zehnjährigen fanden. Trotzdem schien ihn sein Gefühl seit Stunden auf das Schlimmste vorzubereiten.
Als Polizist wünscht man sich immer, dass sich ein erster Verdacht nicht bestätigt, dachte er. Häufig hofft man vergebens und blickt dann in menschliche Abgründe, die man nicht auszuhalten glaubt. Während er an einer Ampel hielt, erinnerte er sich an einige seiner Fälle, die ihn immer wieder einholten. Es waren nicht die Bilder der grausam zugerichteten Leichen, das Blut oder der Gestank an den Tatorten. Kepplinger beschäftigte das Motiv der Täter. Vor allem dann, wenn er es nicht ansatzweise verstehen konnte. Wenn er trotz nächtelangem Grübeln keinen Zugang bekam zu der Gedankenwelt eines Mörders oder Kinderschänders. Natürlich kannte er die einschlägigen Erklärungsversuche gerade jener Verbrechen, die ihn nicht in Ruhe ließen. Aber auch diese erklärten – wenn überhaupt – nur, wie es zu der Tat kommen konnte und in welcher Ausprägung eine Psychose oder Abnormität beim Täter vorgelegen haben könnte. Bisweilen steigerte er sich derart in solche Verbrechen hinein, dass er für seine Umwelt absolut unausstehlich wurde. Einmal hatte er versucht, Valerie zu erklären, was ihn so quälte. Ungefähr nach der Hälfte seiner Ausführungen hatte sie ihn darum gebeten damit aufzuhören. So etwas wolle sie nicht wissen. Er hatte damals ernsthaft da rüber nachgedacht, seinen Beruf aufzugeben. Eine junge Mutter hatte ihrem Bruder in der eigenen Wohnung erlaubt, sexuelle Handlungen an der zweijährigen Tochter vorzunehmen und auf Video aufzuzeichnen. In wenigstens einem Fall konnte man ihr nachweisen, dass sie ihr Kind beruhigt hatte, während er sich an dem Mädchen verging. Kepplinger hatte den Auftrag bekommen, Teile des umfassenden Videomaterials zu sichten. Nach ein paar Minuten hatte er den Videorecorder ausgeschaltet und sich auf der Toilette übergeben. Tage später hatte er darum gebeten, wieder an seine alte Dienststelle zurückkehren zu dürfen. Die wenigen Bilder, die er gesehen hatte, würde er niemals vergessen.
Auf dem Parkplatz vor der Schule griff er nach seinen Unterlagen und den Bildern. Er betrachtete eines der Fotos, auf dem das Mädchen im Badeanzug in einem Freibad spielte.
»Bitte kein Sexualverbrechen!«
Es klang wie eine Beschwörungsformel.
Dann ging er mit weit ausladenden Schritten in Richtung des Schulgebäudes.
Alexander Giebel atmete auf. Nachdem er Susanne Jessen ein Beruhigungsmittel verabreicht hatte, befand sie sich mittlerweile wieder in einem schlafähnlichen Zustand. Ihre Verfassung hatte sich extrem verschlechtert. Von Krampfanfällen begleitet hatte sie verzweifelt nach ihrer Tochter geschrien und das Krankenhaus unbedingt verlassen wollen. Dem gesamten Team war es nicht gelungen, sie zu beruhigen. Solange sie nicht wussten, was mit ihrer Tochter passiert war, würden sie keinen Zugang zu der Frau bekommen.
Er verstand ihre Aufregung, aber er konnte ihr in dieser Situation nicht helfen. Einer der Grundsätze des Klinikums lautete, Patienten nicht anzulügen. Er war ein Befürworter dieser Regel und wollte ihr keine falschen Hoffnungen machen. Die zehnjährige Tochter schien ihr
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