Hochsommermord: Kriminalroman (German Edition)
»Bitte«.
Für einen Moment streifte Kepplingers Blick den seines Vorgesetzten, dessen Gesichtsausdruck Bände sprach. Er verstand und gab mit einem kurzen Nicken zu verstehen, dass er sich seiner Sache sicher war. »Bitte entschuldigen Sie die Störung, aber wir haben Grund zu der Annahme, dass die seit Freitag vermisste Manuela Jessen aus Süßen einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Für die weiteren Maßnahmen sollte meiner Einschätzung nach eine Sonderkommission gebildet werden. Dafür bräuchte ich unbedingt Herrn Brandstätter und vielleicht die Unterstützung einiger anderer Dienststellen.«
Der Direktionsleiter blickte zu Brandstätter. Dann zum Leiter des Streifendienstes. Der zuckte lediglich mit den Schultern.
»Warum weiß ich nichts von diesem Vorfall?«
Offenbar war niemand in der Runde informiert.
Brandstätter nestelte seinen Krawattenknoten gerade und versuchte, mit hochrotem Kopf die Situation zu erklären. »Wir wissen erst seit heute Morgen von dem Mädchen. Es war davon auszugehen, dass es sich um eine gewöhnliche Vermisstensache handelt.«
Mit dieser Aussage gab sich der Direktionsleiter nicht zufrieden. Er nahm die Brille ab und deutete Kepplinger an, sich zu setzen.
»Wie war noch Ihr Name?«
Er stellte sich vor.
»Dann erzählen Sie mal, Herr Kepplinger.«
Er informierte in wenigen Sätzen über den bisherigen Ermittlungsstand. Nach einigen Verständnisfragen erteilte der oberste Chef Arbeitsaufträge, die ungefähr die Hälfte der im Raum sitzenden Organisationsleiter betrafen, und vertagte die Besprechung. Während sich die Runde auflöste, blieb Kepplinger sitzen und wartete das Gespräch seines Vorgesetzten mit dem Direktionsleiter ab. Währenddessen platzte die Chefsekretärin in den Besprechungsraum und baute sich vor den beiden auf. Amüsiert verfolgte Moritz, wie sie fuchtelnd und mit sich überschlagender Stimme zu erklären versuchte, wie es zu der Störung gekommen war. Der Direktionsleiter ließ sie geduldig aussprechen, dann tätschelte er hoheitsvoll ihren Arm.
»Beruhigen Sie sich. Herr Kepplinger hat alles richtig gemacht – und Sie auch.«
Später, als er mit Brandstätter über den Hof lief, gab es eine ähnliche Szene. Moritz kam es so vor, als versuche sein Vorgesetzter den Direktionsleiter zu imitieren, was ihm bei Weitem nicht so glaubhaft gelang.
»Das haben Sie gut gemacht, Kepplinger. Ich weiß gar nicht, ob ich überrascht sein soll oder nicht.«
Das anschließende Schulterklopfen erinnerte ihn an einen untauglichen Versuch, Nähe aufzubauen. Was Brandstätter mit diesem Spruch meinte, verstand er ohnehin nicht.
Eine knappe Stunde später befand er sich auf der Weiterfahrt nach Süßen und betrachtete eine der Fotografien auf dem Beifahrersitz, die ihm Gerd Jessen vor wenigen Minuten gegeben hatte. Das Bild war angeblich keine vier Wochen alt und zeigte das Mädchen auf einem Fahrrad. Sie trug ein hübsches gelbes Sommerkleid und lächelte fröhlich in die Kamera. Jessen hatte ihm noch einige andere Bilder ausgedruckt, die für eine Fahndung geeignet waren. Er verhielt sich kooperativ und zeigte Verständnis für die Maßnahme. Anschließend zeigte er ihm Bilder des vergangenen Wochenendes.
»Sehen Sie, ich war wirklich dort.«
Sie sprachen über mögliche Zufluchtsorte von Manuela. Wieder nannte der Vater die Namen der Freundinnen, bei de nen ihm in der Zwischenzeit die Nachnamen eingefallen waren und die Adresse der einzigen noch lebenden Oma des Kindes. Sie wohnte in Hamburg. Kepplinger bat ihn, sie anzurufen.
»Meine Mutter wohnt in einem Feierabendheim.«
»Versuchen Sie es trotzdem.«
Er griff zum Telefon und drückte eine Schnellwahltaste. Niemand nahm ab. Kepplinger notierte sich die Telefonnummer.
»Das ist doch völlig abwegig anzunehmen, dass sie nach Hamburg gefahren ist«, raunte Gerd Jessen.
»Aber wir können es nicht ausschließen.«
»Sie ist erst zehn.«
»Ich habe schon mal einen achtjährigen französischen Jungen in Stuttgart aus dem TGV geholt und der Bahnpolizei übergeben.«
Jessen wurde nachdenklich.
»Und dann?«
»Seine Tante aus München hat ihn abgeholt. Später sind die Eltern nachgereist.«
»Warum hat er das getan?«
»Er sagte, dass er in einem Buch von einem Jungen gelesen habe, der mit der Eisenbahn um die ganze Erde gefahren ist.«
»Manuela hat mir immer erzählt, was sie tut oder vorhat. Außerdem wäre sie niemals über Nacht weggeblieben, ohne mit ihrer Mutter darüber zu
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