Hochsommermord: Kriminalroman (German Edition)
richtig war, den Vorfall als Vermisstensache zu behandeln. Da es keinerlei Anhaltspunkte für ein Verbrechen gab, waren sie jedoch dazu gezwungen.
Er redete sich ein, dass sie das Mädchen im Laufe des Tages finden würden. Zurück blieb ein Gefühl der Verunsicherung. Etwas, das im Verborgenen schlummerte wie ein wildes Tier.
Der Inspektionsleiter zeigte sich zufrieden und wünschte den Kollegen viel Erfolg.
»Nehmen Sie die Semmeln vollends mit und finden Sie mir das Mädchen«, versuchte er lauthals die geschäftige Aufbruchsstimmung der Kollegen zu übertönen.
Kepplinger dachte darüber nach, wie er Lea am besten in die Ermittlungen mit einbeziehen konnte. Er war sicher, dass sie von ihrer Unterstützung profitieren würden. Zumindest so lange, wie die Nachforschungen im familiären Umfeld andauern würden. Hierbei hatte Lea ihnen zweifelsohne einiges voraus. Außerdem schien sie ein untrügliches Gespür für das Wesentliche zu besitzen.
Schließlich versuchte er, sie im Beisein des Vorgesetzten davon zu überzeugen, in der Inspektion mitzuarbeiten. Entgegen seiner Erwartung signalisierte Brandstätter, die notwendigen Formalitäten in die Wege zu leiten.
»Vielleicht sollten wir erst einmal Frau Thomann fragen, ob sie Interesse hätte«, unterbrach ihn Kepplinger.
»Das wäre natürlich die Voraussetzung«, versuchte er seinen Fehler wettzumachen.
»Ich würde schon gerne«, erwiderte sie. »Aber ich weiß nicht, wie das gehen soll, wir sind eh viel zu wenige in der Schicht.«
»Da machen Sie sich mal keine Sorgen«, sagte Brandstätter.
»Das bekomme ich schon geregelt.«
Lea sah Moritz in die Augen. Er nickte ihr aufmunternd zu. Ihr Blick wurde prüfend, als wollte sie herausfinden, ob seine Aufforderung ernst gemeint war. Schließlich entspannte sich ihr Ausdruck. Als sie sich Brandstätter zuwandte, lächelte sie bereits wieder.
»Gut, ich bin dabei.«
»Freut mich. Willkommen bei der Kripo.«
Lea Thomann hatte sich dazu entschlossen, mit Kepplinger und Falcone nach Süßen zu fahren, obwohl ihre Abordnung zur Kriminalpolizei bislang nicht geklärt war. Sie hatte ohnehin frei, und an Schlaf war in dieser Situation nicht zu denken. Dazu fühlte sie sich bereits zu sehr in den Fall involviert. Außerdem war sie, wie alle anderen, gespannt auf die Telefonortung.
Seitdem sie Moritz Kepplinger getroffen und einen kleinen Einblick in die Arbeit der Kriminalpolizei bekommen hatte, fühlte sie sich auf eine besondere Art wohl. Unter den Kollegen der Kriminalinspektion herrschte ein ganz anderer Umgangston, als sie es gewohnt war. Möglicherweise lag es an der Tätigkeit. Im Streifendienst wurde selten mit jener Sorgfalt vorgegangen, die sie in der Besprechung kennengelernt hatte. Das war sicherlich auch nicht notwendig, wenn es darum ging, einen Betrunkenen vom Bahnhof aufzulesen und in die Ausnüchterungszelle zu verfrachten. Aber gerade dieses analytische Vorgehen, um einen Fall wie diesen aufzuklä ren, faszinierte sie. Und es kam ihrem persönlichen Verständ nis von Polizeiarbeit näher. Leider gab es bei der Kripo nur sehr wenige Stellen, und ein Studium an der Hochschule der Polizei war die Voraussetzung für einen Laufbahnwechsel. Die wenigen begehrten Studienplätze wurden über ein schriftliches Auswahlverfahren vergeben, zu dem sich Tausende Kollegen der Landespolizei, die meisten von ihnen zum wiederholten Mal, bewarben. Bislang hatte sie diesen Schritt nicht gewagt.
Während sie jetzt den Gesprächen von Moritz und Salvatore lauschte, die sich über die Dozenten der Hochschule ausließen, fühlte sie sich mit einem Mal ausgegrenzt.
Lea beschloss, Moritz in einer ruhigen Minute auf das Studium und die Chancen eines Wechsels zur Kriminalpolizei anzusprechen. Sie fand ihn sympathisch. Er hatte etwas Besonderes an sich. Noch wusste sie nicht, was es war, aber es machte ihn interessant. Er musste einen schweren Unfall hinter sich haben. Schon bei der ersten Begegnung im Hof waren ihr die winzigen Farbunterschiede der Haut an seinen Unterarmen und am Hals aufgefallen, die von einer Transplantation herrühren mussten. Sie hatte selbst mehrere solcher Stellen, die von einer Verbrühung in der Kindheit stammten.
Der Verwalter des Wohnhauses, in dem Susanne Jessen mit ihrer Tochter lebte, lief unruhig vor der Eingangstür hin und her.
»Was ist denn passiert?«, begrüßte er die drei Polizeibeamten aufgeregt. »Und woher soll ich wissen, ob Sie wirklich von der Polizei sind?«
Kepplinger
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