Hochsommermord: Kriminalroman (German Edition)
Fakten und sortierte sie anschließend in einer Tabelle. Nach einer Stunde war er fertig. Alle Details waren in chronologischer Reihenfolge aufgelistet. Trotzdem hatte er das Gefühl, etwas übersehen zu haben. Eine Kleinigkeit, etwas scheinbar Unwichtiges.
Man sieht nur, was man weiß.
Er kam nicht drauf, obwohl er sich den Kopf zermarterte. Nach einer halben Stunde gab er auf. Er griff zum Telefonhörer und wählte, ohne darüber nachzudenken, wie spät es eigent lich war, die Nummer von Alexander Giebel. Aus den Geräuschen schloss er, dass der Anruf weitergeleitet wurde. Prompt ging der Arzt an den Apparat. Kepplinger erkundigte sich nach dem Zustand seiner Patientin.
»Sie wollen mit ihr sprechen?«
»Sobald es aus Ihrer Sicht möglich ist.«
»Kann ich aus Ihrem Anliegen schließen, dass Sie das Mädchen noch nicht gefunden haben?«
Kepplinger sah keinen Grund, dem Arzt zu misstrauen, und berichtete kurz von den erfolglosen Routinemaßnahmen des Tages. Giebel hörte aufmerksam zu.
»Ich hatte für meine Patientin gehofft, sie würden die Sache schnell aufklären.«
Im ersten Moment empfand Kepplinger diese Aussage als Kritik. »Wir tun, was wir können«, antwortete er knapp.
»Daran habe ich nicht gezweifelt. Sie haben mich falsch verstanden. Der Gesundheitszustand von Frau Jessen hängt unmittelbar mit dem Verbleib ihrer Tochter zusammen. Was das Gespräch anbelangt: vielleicht morgen Nachmittag. Ich rufe Sie an. Wenn Sie noch Fragen haben, können Sie mich unter dieser Nummer jederzeit erreichen. Zwei meiner Kollegen sind krank geworden, deswegen werde ich die ganze Woche da sein.«
Das Telefonat war beendet. Kepplinger lehnte sich zurück und dachte über das Gespräch nach. Der Arzt hatte ihm bewusst gemacht, dass es um mehr ging, als nur um die Suche nach dem Mädchen. Doch die Sorge um den Gesundheitszustand der Mutter durfte seine Ermittlungsarbeit nicht beeinträchtigen. Abermals kam ihm eine Redensart seiner Therapeutin in den Sinn:
Alle Kraft folgt der Aufmerksamkeit, Moritz. Das ist ein altes indianisches Sprichwort.
Ich muss mich auf das konzentrieren, was in meinen Möglichkeiten liegt, sagte er sich laut. Alles andere darf mich nicht kümmern!
Er richtete sich auf, rückte die Tastatur zurecht und loggte sich erneut in die Datenbank des Landeskriminalamts ein.
Lea Thomann schenkte sich ein Glas Rotwein ein und machte es sich auf der Couch gemütlich. Die Reportagesendung verfolgte sie nur beiläufig. Die Geräusche des Fernsehers vermittelten ihr das Gefühl, nicht alleine zu sein. Seit der Trennung von ihrem Freund überkam sie oft ein Gefühl der Angst, wenn sie alleine in der Wohnung war. Der Fernseher hatte sich als bewährtes Mittel dagegen herausgestellt. Im Grunde gehörte sie zu den Menschen, die den Fernseher nur einschalteten, um hin und wieder die Nachrichten oder einen guten Spielfilm anzusehen. Aber die Trennung hatte viele ihrer Gewohnheiten verändert. Am schlimmsten waren die schlaflosen Nächte, in denen die Bilder und Erlebnisse in ihr hochkamen. Anfangs hatte sie von seiner Krankheit nichts mitbekommen. Das gemeinsame Glas Wein am Abend gehörte zu ihrem Lebensstil, bis sie später herausfand, dass er in der ganzen Wohnung Depots mit Hochprozentigem angelegt hatte. Als sie ihn darauf ansprechen wollte, war er ausgerastet und auf sie losgegangen. Lea erinnerte sich nicht mehr daran, wie viele solcher Attacken und anschließender Entschuldigungen sie hatte ertragen müssen, bis sie sich dazu durchgerungen hatte, die Beziehung zu beenden. Doch damit hatte die Tragödie erst richtig begonnen. Wochenlang drohte er damit, sie und sich selbst umzubringen. In dieser Zeit fing sie damit an, regelmäßig zu laufen und Kampfsport zu betreiben. Schließlich war der Abend gekommen, an dem sie sich gegen seine Attacke zur Wehr gesetzt und ihn mit einem Fußtritt im Genitalbereich verletzt hatte. In seinem Wahn war er zur Polizei gerannt und hatte sie angezeigt. In der Gerichtsverhandlung war die ganze schmutzige Wäsche gewaschen worden. Zwar billigten ihr die Richter Notwehr zu, aber da sie keine Gegenanzeige s tellte, hatte es Gerüchte unter den Kollegen und im Freundeskreis gegeben. Abgesehen von den unsichtbaren Narben, die ihr geblieben waren, litt sie derart unter den Anfeindungen, dass sie beschlossen hatte, ein neues Leben zu beginnen. Sie bewarb sich von Hamburg in die Provinz, in der Hoffnung, siebenhundert Kilometer Abstand wären genug. Doch dort machte sie die
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