Hochsommermord: Kriminalroman (German Edition)
vorgehabt, sich von ihr zu trennen. Sie war nicht in der Lage gewesen, seinen Kinderwunsch zu erfüllen. Von dem Tag an, als ihm das klar geworden war, hatte er sich ihr gegenüber gleichgültig verhalten. Bereits seit Längerem hatte er verschiedene Möglichkeiten überdacht, wie er sie am besten loswerden könnte, wenn er sie nicht mehr ertragen würde. Dass sie nun von selbst gegangen war, betrachtete er als Glücksfall. Zumal er jetzt alle Kraft benötigte, seinen Plan zu vollenden. Eine Beziehung würde er nicht mehr eingehen. Dafür war es jetzt zu spät. Der Gedanke an das Kind auf dem Foto, das er stets bei sich trug, gab ihm den nötigen Halt.
Doch dann drängten sich die Bilder des anderen Mädchens in seine Gedanken und ließen ihn nicht mehr los.
Mitten in der Nacht setzte er sich in den Wagen und fuhr zur Scheune. Er zitterte, als er den rosafarbenen Schuh aus dem Kofferraum nahm. Die Geräusche aus dem angrenzenden Wald klangen unheimlich und machten ihm Angst. Er holte einen Benzinkanister und schüttete den gesamten Inhalt über den Schuh. Dann warf er ein Streichholz darauf. Es gab eine laute Verpuffung und eine meterhohe Stichflamme. Als das Feuer erloschen war, schrie er wie von Sinnen, bis er vor Erschöpfung nicht mehr konnte. Den Mann, der in einiger Entfernung neben einer Eiche stand und ihn beobachtete, sah er nicht. Anschließend ging er zu seinem Wagen zurück und fuhr nach Hause. Während der Fahrt beruhigte er sich und hatte das Gefühl, sich von einer Last befreit zu haben. Er versuchte, ein Lied mitzusingen, das im Radio gespielt wurde. Das Schreien hatte ihn so heiser gemacht, dass er keinen Ton herausbrachte. Er beschloss, am nächsten Tag zum Arzt zu gehen und sich ein stärkeres Schlafmittel verschreiben zu lassen.
Die klare Nachtluft tat gut. Auf dem Nachhauseweg überkam Moritz erneut das Gefühl, bereits seit Jahren bei der Göppinger Dienststelle zu arbeiten. Dabei war es erst sein zweiter Tag gewesen, der zu Ende ging. Er zählte die Arbeitszeit zusammen und kam auf vierunddreißig Stunden. Fehlen noch sieben, dann hätte ich mein Wochensoll erfüllt. Wenn es so weitergeht, kann ich den Marathon vergessen, dachte er. Zumindest in diesem Jahr.
Unter der Dusche dachte er an Lea. Auch bei ihr hatte er das Gefühl, sie seit Langem zu kennen. Der Gedanke, sie in weni ger als drei Stunden wiederzusehen, stimmte ihn heiter.
Im Bett musste er daran denken, was er über Lars Kaufmann gelesen hatte. Was ist das für ein Mensch?, fragte er sich. Und warum wurde ihm der Bus nicht weggenommen? Schließlich hatte er damit eine Straftat verübt. In ein paar Stunden würde er Antworten auf diese Fragen bekommen. Bis dahin musste er seine Neugier unterdrücken. Das Warten machte ihm trotz der Anspannung nichts aus. Einmal hatte er mit seiner Ärztin über seine zwiespältigen Gefühle gesprochen. Den ständigen Kampf seiner Ungeduld gegen seine Entschlossenheit.
Es war ungewöhnlich, über seine Kindheitserinnerungen zu sprechen. Andererseits war es das erste Mal, dass ihm jemand aufrichtig zuhörte und sich für so viele Details interessierte. Sonst wurde er immer nur gefragt, ob es nicht ein gefährlicher Job sei und was sein schlimmster Einsatz gewesen war.
In ihrem Büro gab es keine Uhr. Kein Telefon klingelte. Während der Sitzungen begleitete ihn stets das Gefühl, sie hätten unendlich viel Zeit.
»Viele Jahre später sind Sie einer der schwarzen Männer geworden?«
Er nickte. »Der Wunsch wurde immer stärker. Manchmal tat es regelrecht weh, so lange warten zu müssen. Niemand konnte mir die Garantie geben, dass ich es schaffen würde.«
»Sie mussten zunächst eine Ausbildung bei der Polizei machen.«
»Genau. Danach habe ich mich beworben. Auf diesen Tag hatte ich vierzehn Jahre lang gewartet.«
Es war Mittwoch, der 24. Juli 2013. Eine Stunde, bevor die Morgendämmerung einsetzte.
Kurz vor sechs verteilten sich die Einsatzkräfte um das freistehende Einfamilienhaus. Das Gebäude und der angrenzende Garten waren ungepflegt und verwildert. Aus dem kniehohen Unkraut lugten die Überreste eines zusammengestürzten Gewächshauses. Aus einem Wasserhahn an der Hauswand tropfte eine rostfarbene Brühe auf eine Steinplatte, auf der sich ein hässlicher Fleck gebildet hatte. Auf einem Nachbargrundstück schlug ein Hund an. Der vergammelte Bus stand in einer Zufahrt neben dem Gebäude. Die Stellen, die Kepplinger auf dem Schwarz-Weiß-Foto als Farbkleckse interpretiert hatte, waren
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