Hochsommermord: Kriminalroman (German Edition)
Haus.
Alle Zimmer im Erdgeschoss waren leer. Sie gingen leise über die Treppe ins Obergeschoss und postierten sich einzeln vor den verschlossenen Türen. Auf ein Zeichen betraten alle gleichzeitig die Räume. Kepplinger fand sich in völliger Dunkelheit wieder. Vom Flur drang ein schwacher Lichtschein in das Zimmer. Instinktiv trat er aus dem Türrahmen in die Tiefe des Raumes und nahm die Pistole in Anschlag. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Finsternis. Aus den Umrissen der Möbel folgerte er, sich in einem Schlafzimmer zu befinden. Aus den angrenzenden Räumen vernahm er das Poltern seiner Kollegen. Die Geräusche raubten ihm für einen Sekundenbruchteil die Konzentration auf das, was sich unmittelbar vor ihm abspielte.
Später erinnerte er sich daran, dass er vorgehabt hatte, den Lichtschalter zu betätigen. In dem Augenblick, als er mit seiner freien Hand die Wand abtastete, explodierte der Raum. Er nahm das grelle Aufblitzen eines Mündungsfeuers wahr, das von einem ohrenbetäubenden Knall begleitet wurde. Gleichzeitig spürte er einen brennenden Schmerz im linken Oberarm. Es fühlte sich an wie der Stich eines riesigen Insekts. Intuitiv trat er einen Schritt zur Seite und betätigte den Abzug.
Kein Feuer ohne Bewegung. Keine Bewegung ohne Feuer .
Dabei stolperte er über ein am Boden liegendes Buch und fiel vornüber. Ein Umstand, der ihm das Leben rettete. Ein zweites Mal erschütterte explosionsartiger Lärm das Zimmer. Am Boden kauernd beobachtete er, wie sich hinter einem Bett eine Person aufrichtete und hinaus auf den Flur rannte. Dann vermischten sich die Geräusche der Schritte im Treppenhaus mit den Schreien seiner Kollegen.
»Er ist nach unten gerannt!«
Es folgte ein Gewirr von Funkgesprächen und Schreien. Das Licht ging an.
»Nicht schießen!«
Erst jetzt bemerkte er, dass er seine Waffe immer noch in Richtung Tür hielt. Das Griffstück war warm. Er wusste nicht, wie oft er abgedrückt hatte. Jemand stieg über ihn hinweg und zog den Rollladen nach oben. Kepplinger blickte in die Augen des Einsatzleiters.
»Ich bin in Ordnung«, sagte er.
»Gut«, erwiderte dieser. »Wir haben ihn draußen festgenommen. Du hast ihm zwei saubere Beintreffer verpasst.«
Kepplinger tastete seinen Arm ab und stöhnte leise auf.
»Ich glaube, er hat mich auch erwischt«, sagte er leise.
Sein Kollege blickte auf den Oberarm und half ihm, vorsichtig die Jacke abzustreifen. Unterhalb der Schulter befand sich eine zehn Zentimeter lange Streifwunde. Die Wundränder klafften ein paar Millimeter auseinander und gaben den Blick auf das weiße Unterhautgewebe frei.
»Scheint nicht besonders tief zu sein«, beurteilte Moritz selbst die Verletzung mit einer gewissen Ironie. »Aber es brennt höllisch.«
»Hab schon einen Notarzt verständigt. Du bleibst einfach so lange ruhig liegen«, erwiderte der Kollege.
»Moritz!« Lea kam in das Schlafzimmer gerannt.
»Nur ein Streifschuss. Halb so wild.«
»Ich hab Todesängste ausgestanden, als es da plötzlich geknallt hat.«
»Ich auch«, er musste lächeln, als ihm bewusst wurde, wie blöd das klingen musste, angesichts der Gefahr, in der er sich befunden hatte.
Manuela . Der erste klare Gedanke, den sie fassen konnte, galt ihrer Tochter. Sie war aufgewacht und hatte das Gefühl, langsam aus einem Nebelmeer zu treten. Für einen Moment glaubte sie, am Strand ihrer Ferienwohnung in Dalmatien zu sein. Aber nachdem sich der Nebel aufgelöst hatte, bemerkte sie, dass sie in einem fremden Zimmer lag. Der gesamte Raum wurde vom Licht der Julisonne durchflutet. Die Helligkeit fühlte sich warm und unbeschwert an. Als sie den Schlauch in ihrer Armbeuge bemerkte, der zu einer Plastikflasche über ihrem Kopf führte, kam die Erinnerung zurück.
Manuela. Die heisere Stimme, die den Namen ihrer Tochter rief, kam ihr fremd vor. Noch einmal schrie sie den Namen in den sonnendurchfluteten Raum, der so idyllisch schien. Doch diese Idylle gab es nicht mehr. Immer wieder rief sie Manuela , bis die Tür aufgerissen wurde und sie von Pflegepersonal umringt war. Manuela . Das Schlimmste war, dass niemand sie zu hören schien. Die Menschen in den weißen Kleidern sprachen über Medikamente und wie es sein konnte, dass sie schon wieder wach war. Endlich kam Doktor Giebel, der freundlich auf sie einging und ihr die Hand hielt.
»Ich möchte mich aber nicht beruhigen! Ich möchte wissen, wo meine Tochter ist!«, schrie sie. Zwei Hände hantierten über ihr an der Plastikflasche.
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