Hochsommermord: Kriminalroman (German Edition)
Beruhigungsmittel verabreichen. Aber jetzt ist sie bei vollem Bewusstsein, kann klare Gedanken fassen und scheint sich an alles zu erinnern. Ihre größte Sorge gilt verständlicherweise ihrer Tochter. Ich hoffe, Sie haben gute Nachrichten mitgebracht.«
»Ich fürchte, nein«, sagte Kepplinger. »Wir wissen immer noch nicht, was passiert ist.«
Alexander Giebel verlangsamte seinen Schritt und deutete mit einem Kopfnicken in Richtung eines Patientenzimmers.
»Wir haben uns dazu entschieden, ihr keine starken Medikamente mehr zu verabreichen. Susanne Jessen muss mit der Realität konfrontiert werden.« Er zog die Augenbrauen nach oben. »Natürlich nicht jetzt sofort, aber ich hätte mir gewünscht, Sie könnten ihr etwas sagen, das ihre Zuversicht weckt.«
»Vielleicht kommen wir einen Schritt vorwärts, wenn wir mit ihr gesprochen haben. Sie ist unsere wichtigste Zeugin.«
Der Arzt nickte und bat darum, bei dem Gespräch anwesend sein zu dürfen. »Falls es zu irgendwelchen Komplikationen kommen sollte.«
»Kein Problem«, erwiderte Kepplinger. »Ich hätte Sie ohnehin darum gebeten.« Dann betraten sie zu dritt das Zimmer von Susanne Jessen.
An der Wand gegenüber dem Krankenbett hing ein Kunstdruck von Monet. Eines der Motive der bekannten Seerosen-Serie. Kepplinger erinnerte sich daran, dass der Maler beinahe blind gewesen war, als er dieses Bild gemalt hatte. Die dicken, strudelartigen Strukturen wiesen darauf hin. Zudem war der Künstler in dieser Phase bereits hochgradig depressiv gewesen und hatte zahlreiche seiner Bilder zerstört. Monet wollte nicht, dass die unfertigen Werke nach seinem Tod in den Kunsthandel gelangten. Kepplinger zweifelte daran, dass sich so ein Werk positiv auf die Genesung eines Patienten in diesem Krankenhaus auswirken konnte.
Susanne Jessen war wach und starrte ihn und Lea feindselig an.
»Wer sind diese Leute?«
»Frau Thomann und Herr Kepplinger sind von der Polizei und wollen mit Ihnen über Ihre Tochter sprechen«, erklärte der Arzt.
Sie ignorierte den Gruß der beiden. »Wo ist sie?«
»Das wissen wir nicht, Frau Jessen. Aber wir hoffen, dass Sie uns dabei helfen können, sie zu finden«, sagte Kepplinger.
»Gerd«, sagte sie. »Er hätte am Wochenende auf sie aufpassen sollen.«
Moritz ignorierte den Vorwurf und lenkte das Gespräch behutsam auf die Tage vor dem Verschwinden des Mädchens. Es funktionierte. Sie erzählte, wie sie ihre Tochter bei ihren Hausaufgaben unterstützt, Manuela zur Musikschule gebracht hatte und von dem Kroatienurlaub, den sie mit ihrer Freundin und den Kindern geplant hatte.
Moritz fiel auf, dass sie dabei häufig die Wochentage verwechselte. Vorsichtig tastete er sich an die Erinnerungen an das vergangene Wochenende heran, bis zu dem Augenblick am frühen Montagmorgen, als sie das Bewusstsein verloren hatte.
»Glauben Sie, dass Ihr Exmann Manuela etwas angetan hat?«
Er musste die Frage stellen.
»Gerd ist ein aggressiver Mensch geworden, und manchmal war er auch grob zu ihr. Nach der Scheidung wurde das immer schlimmer«, sagte sie und begann zu schluchzen. »Sie liebt ihren Vater trotzdem über alles. Das habe ich nie verstanden.«
Er blickte nachdenklich zu Lea Thomann, die betroffen auf den Boden starrte. Sie hatten einen Einblick davon bekommen, wie tief die Gräben in dieser zerrissenen Familie tatsächlich waren. Aber kam Gerd Jessen wirklich als Täter in Frage? Wenn ja, was hatte er mit dem Kind angestellt? Und wo war sie? Lea schien seine Gedanken zu erraten und wandte sich an die Patientin.
»Frau Jessen, können Sie uns sagen, inwiefern er gegenüber Manuela gewalttätig geworden ist?«
»Nun ja, er hat sie ab und zu angebrüllt. Manchmal ist ihm auch die Hand ausgerutscht. Wenn sie zum Beispiel eine schlechte Note mit nach Hause gebracht hat. Manuela hat das akzeptiert und sich die Schuld daran gegeben, wenn er ausgerastet ist«, erklärte Susanne Jessen. »Das konnte ich ihr nicht ausreden.«
»Vielleicht, weil Sie sich selber hin und wieder die Schuld an der gesamten Situation geben?«, mischte sich Alexander Giebel in das Gespräch ein.
»Das kann schon sein«, schluchzte sie und griff nach einem Taschentuch.
Moritz deutete Lea an, dass sie das Gespräch mit Frau Jessen im Moment nicht weiterbringen würde. Aber sie stellte trotzdem eine weitere Frage.
»Haben Sie nichts dagegen unternommen?«
»Doch, natürlich«, antwortete Susanne Jessen energisch. »Ich habe oft mit ihm darüber gesprochen. Aber das ist
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