Hochsommermord: Kriminalroman (German Edition)
in ihr Büro, und er wagte einen erneuten Versuch, über seine Ängste zu sprechen.
»In dieser Zeit habe ich jede Nacht vom Turm des Müllheizkraftwerks geträumt. Wir sollten ihn am Ende der Ausbildung besteigen. Einhundert Meter hoch. Ungesichert. Im Traum rutsche ich auf einer der eingemauerten Eisenklammern aus, die als Trittstufen dienen, und falle in die Tiefe. Eines Morgens war es dann so weit. Ich hatte wahnsinnig Respekt. Mit jedem Meter, den ich nach oben stieg, verpuffte die Angst, und als ich oben war, habe ich mich frei gefühlt. Ohne jeden Zweifel. Es war so, als ob ich mich selbst besiegt hätte und mich nichts mehr aufhalten könnte.«
»Aber so war es doch, Moritz. Sie haben Ihren Traum realisiert. Darauf können Sie stolz sein.«
»Damals dachte ich dasselbe. Und … ja … ich war stolz auf mich. Sechs Jahre lang.«
»Möchten Sie darüber sprechen?«
»Nein.«
Je mehr er sich danach sehnte, endlich einschlafen zu können, umso lauter wurde das Geräusch in seinem Ohr. Schließlich gesellte sich ein dumpfer Kopfschmerz hinzu. Gegen dreiundzwanzig Uhr hielt er es nicht mehr aus. Er schlüpfte in seine Laufklamotten und rannte kreuz und quer durch die Stadt. Die Straßen waren um diese Zeit wie leergefegt. Als er an einer Reihe von Bäumen in einem Park entlanglief, hörte er plötzlich ein Geräusch. Als Kepplinger sich umdrehte, sah er einen Hund auf sich zurennen. Er blieb keuchend stehen und versuchte, Ruhe zu bewahren. Der Setter sprang an ihm hoch und bellte wie verrückt. Er kam ihm so nahe, dass er den strengen Atem des Tiers roch und ihm erneut übel wurde. In dem Moment erklang die scharfe Stimme eines Mannes, der aus dem Schatten eines Gebüsches trat. Der Rüde gehorchte augenblicklich und rannte aufgeregt zu seinem Herrchen. Kepplinger schlug das Herz bis zum Hals. Die Schussverletzung an seinem Arm begann schmerzhaft zu pochen.
»Sorry«, rief ihm der Hundebesitzer von Weitem zu.
Zu mehr als einem gemurmelten »schon gut« war ihm nicht zumute. An einem anderen Abend hätte er dem Mann erklärt, wie man sich fühlte, wenn einem ein ausgewachsener Hund gegen die Brust sprang. Doch heute setzte er, ohne sich noch einmal umzudrehen, seinen Nachtlauf fort.
Eine Stunde später lag er frisch geduscht im Bett und drehte sich erneut von einer Seite auf die andere, bis er endlich in einen unruhigen, traumlosen Schlaf fiel.
DONNERSTAG
25. Juli 2013
A m nächsten Morgen fand Kepplinger den Bericht von Salvatore auf seinem Schreibtisch. Sein Kollege hatte ausführlich recherchiert und vergleichbare Kindesentführungen kurz zusammengefasst.
In keinem einzigen Fall gab es Parallelen zum Verschwinden von Manuela Jessen, die ihnen weiterhelfen konnten. Er legte die Akte zur Seite und holte sich einen Kaffee.
Während die Maschine vorheizte, dachte er wieder an seine Theorie. Manuela musste zu jemandem in den Wagen gestiegen sein, davon war er überzeugt. Aber wieso hatte das niemand bemerkt? Und was war danach passiert?
Kepplinger drückte auf den Bedienknopf des Automaten.
Was, wenn seine Annahme falsch war, und es sich um eine Zufallstat handelte? Den »Worst Case« aller Ermittlungen bei einem Kapitalverbrechen.
Hatte Gerd Jessen doch etwas mit dem Verschwinden seiner Tochter zu tun? Lea Thomann betrachtete den Vater wesentlich kritischer als er. Allerdings hatte auch sie zwischenzeitlich eher Lars Kaufmann in Verdacht gehabt. Im Flur hörte er, wie jemand ein Büro aufschloss. Anhand der Lautstärke, mit der die Tür zugeschlagen wurde, nahm er an, dass es sich um seinen Chef handelte. Kepplinger ging zurück ins Büro. Hoffentlich kam Brandstätter nicht auf die Idee, ihm einen Besuch abzustatten. Es blieb ruhig, und er nippte an seiner Tasse. Der Kaffee war lauwarm geworden. Trotzdem trank er ihn leer.
Ihm wurde immer klarer, dass er sich entgegen der Tendenzen im Kollegenkreis nicht festlegen wollte. Sie mussten weiterhin in alle Richtungen ermitteln. Es gab keinen einzigen konkreten Hinweis. Jessen war ein gewalttätiger Mann. War er auch ein Mörder, oder verschwieg er etwas?
Kaufmann war ein Schwein. Einmal hatte er ein Mädchen für zwei Stunden in seiner Gewalt gehabt. Reichte ihm das nicht mehr? Kepplinger rätselte, ob es bei Pädophilen eine Analogie zu Serientätern gab, die in immer kürzeren Abständen zuschlugen, eine Art Steigerung suchten. Vielleicht genügten Kaufmann keine zwei Stunden mehr, um seine Fantasien zu befriedigen.
Gegen Susanne Jessen ergaben sich
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