Hochsommermord: Kriminalroman (German Edition)
einer Realität konfrontiert, die er einfach nicht begreifen konnte. Inmitten einer idyllisch anmutenden Wohnsiedlung und hinter der scheinbar bürgerlichen Fassade eines Einfamilienhauses hatte jemand einen Vorhof der Hölle errichtet. Einen Ort, an dem die menschenverachtendsten Verbrechen hätten stattfinden sollen, die man sich nur vorstellen konnte. Wie viele Keller dieser Art gab es noch auf der Welt? Wie viele Kinder wurden in diesem Augenblick missbraucht oder in einem vergleichbaren Verlies gefangen gehalten? Er würde diese Bilder nie wieder vergessen können. Und zugleich fürchtete er auch, dass ihn solche Erlebnisse krank machen würden. Auf Dauer konnte er so etwas nicht aushalten. Nachdenklich sah er aus dem Fenster.
In der nächsten Sitzung sprachen sie über seine Einsätze beim SEK .
»Das hört sich alles so unglaublich an, Moritz. Hatten Sie nie Angst?«
»Im Einsatz nie. Wenn, dann dachten wir danach, dass es unter anderen Umständen hätte böse ausgehen können. Wissen Sie, man trainiert das ja alles, und jeder weiß, was er zu tun hat. Man lebt quasi vierundzwanzig Stunden zusammen in der Gruppe und kennt sich.«
»Sie meinen, dass Sie ein eingespieltes Team waren?«
»Definitiv. Und man entwickelt ein Gespür für Gefahren. Einmal hat jemand mit einer Pistole auf mich gezielt. Sie denken bestimmt, ich bin verrückt. Aber ich wusste, dass er nicht schießen würde.«
»Und dann?«
»Ich bin auf ihn zugegangen, habe mit ihm gesprochen, und er hat mir seine Waffe gegeben.«
Es machte ihm nichts aus, über solche Erlebnisse zu sprechen. Für ihn gab es ein Leben vor und eines nach dem Inferno. Über beide Zeiträume konnte er reden. Und er spürte, wann sie sich der Gefahrenzone näherten. Er hatte gelernt, sich zu schützen. Die Erinnerungen an den Höllentrip waren in einem Tresor eingesperrt. Verschlossen.
Er würde ihn nie wieder aufmachen.
Das Klingeln seines Mobiltelefons riss ihn aus seiner Gedankenwelt. Er griff in die Innentasche seiner Jacke. Das Zittern der rechten Hand war stärker geworden. Rasch nahm er das Telefon in die linke.
»Ja?«
Am anderen Ende hörte er die aufgeregte Stimme von Franziska.
»Moritz, wo seid ihr?«
»Auf der Rückfahrt. Ist etwas passiert?«
»Ihr müsst so schnell wie möglich zurück zur Dienststelle kommen.«
»Was ist denn los?«
»Wir …«, die Stimme der Sekretärin stockte, »… haben eine Kinderleiche gefunden.«
Die Nachricht traf ihn wie ein unerwarteter Fausthieb in die Magengrube. Seine schlimmsten Befürchtungen waren wahr geworden. Am liebsten wäre er aus dem fahrenden Wagen gesprungen und davongelaufen.
»Zehn Minuten«, stammelte er. »In zehn Minuten sind wir da.«
Lea wechselte ohne nachzufragen auf die Überholspur und drückte das Gaspedal durch.
Die Stimme von Franziska überschlug sich beinahe, als sie von den Vorfällen berichtete, die sich seit dem späten Vormittag auf der Dienststelle ereignet hatten. Erst nachdem Kepplinger sie darum bat, die Geschichte noch einmal und nur halb so schnell zu erzählen, verstanden sie, wie die Leiche entdeckt worden war.
Gegen elf hatte eine Mitarbeiterin der Poststelle einen großen Umschlag im Briefkasten der Polizeidirektion gefunden. Ohne Adresse und Absender. In dem Kuvert hatte sich der Ausschnitt einer Wanderkarte befunden, mit dem zunächst niemand etwas hatte anfangen können. Eine Stunde war vergangen, bis die Landkarte bei der zuständigen Kriminalinspektion angekommen war.
Der Kartenausschnitt zeigte ein Waldgebiet zwischen Süßen und Schlat. In der Nähe eines Wanderparkplatzes war mit Rotstift eine Stelle markiert.
»Ackermann und der Chef sind sofort aufgebrochen, um sich die Stelle anzusehen, konnten aber nichts Außergewöhnliches feststellen. Markus wollte die Sache nicht auf sich beruhen lassen und hat nach allen verfügbaren Hundeführern verlangt. Dreißig Minuten später hat dann eines der Tiere die Kinderleiche gefunden.«
Franziska führte die beiden zu einem Tisch, auf dem eine Kopie der Wanderkarte lag. Es war die gleiche, die Moritz bei den Vorbereitungen für die Hubschrauberaktion verwendet hatte.
»Das Original und der Umschlag sind bereits im Labor«, sagte sie. »Das gesamte Team und die Spurensicherung sind an der Fundstelle. Brandstätter lässt ausrichten, dass du unbedingt nachkommen sollst.«
»Weiß man, ob es sich bei der Leiche um ein Mädchen oder einen Jungen handelt?«
»Nein«, antwortete sie. »Die Leiche sieht angeblich
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