Hochzeit im Herbst
„Was hast du gesehen?”
„Gesehen habe ich nichts. Es war mehr ein … Gefühl, so als wäre ich nicht allein. Das Haus stand seit Jahrzehnten leer, und Rafe hatte noch nicht mit der Renovierung begonnen. Aber da waren Geräusche. Schritte, Türenquietschen. Und auf der Treppe gibt es eine Stelle, wo einem kalte Luft ins Gesicht schlägt.”
„Du hast es gespürt?” Rebeccas Tonfall war nun ganz sachlich der einer Wissenschaftlerin, die Fakten sammelte.
„Bis in die Knochen. Ich war völlig geschockt. Rafe hat mir später erzählt, dass genau an dieser Stelle am Tag der Schlacht ein junger Soldat erschossen wurde.”
„Die beiden Soldaten.” Als Regan sie überrascht ansah, nickte Rebecca und fuhr fort: „Ein paar Einzelheiten sind mir auch bekannt. Die beiden gegnerischen Soldaten sind am siebzehnten September 1862 in den Wäldern aufeinandergetroffen. Man erzählt sich, dass sie den Anschluss an ihre jeweilige Truppe verloren hatten. Oder möglicherweise hatten sie auch die Absicht zu desertieren, das weiß niemand genau. Sie waren beide blutjung, noch halbe Kinder. Sie schössen aufeinander und wurden dabei schwer verwundet. Der eine schaffte es noch, sich bis zum Haus von Charles Barlow, dem heutigen MacKade-Inn, zu schleppen. Die Hausherrin, Abigail, eine Südstaatlerin, war mit einem reichen Yankee verheiratet. Sie forderte ihre Sklaven auf, den verwundeten Soldaten ins Haus zu bringen, wo sie seine Wunden verbinden wollte. Doch als der Hausherr die Treppe herunterkam und den Soldaten sah, der die Uniform der Konföderierten trug, zog er kaltblütig seine Pistole und erschoss ihn dort auf der Treppe.”
„Genauso war es”, stimmte Regan zu. „Und man kann im Haus auch heute noch den Rosenduft riechen. Den Duft von Abigails Rosen.”
„Wirklich? Das ist kaum zu glauben. Nun … wenn es tatsächlich so ist, wäre es faszinierend.” Ihre Augen nahmen für einen Moment einen verträumten Ausdruck an.
„Manche Leute hören in der Nacht den Schuss und auch leises Weinen. Cassie, Devins Frau, kann dir mehr darüber erzählen.”
„Ich würde mir das Haus gern so bald wie möglich ansehen. Meine Ausrüstung müsste eigentlich morgen eintreffen, spätestens übermorgen.”
„Ausrüstung?” Rafe runzelte die Stirn.
„Sensoren, Kameras, Temperaturmessgeräte. Die Parapsychologie ist auf dem besten Weg zu einer Wissenschaft.”
Regan warf Rebecca einen erstaunten Blick zu und schüttelte den Kopf.
„Ich kann mich nur wundern, Rebecca. Früher warst du eine so …”
„Seriöse Wissenschaftlerin, meinst du? Das bin ich immer noch. Aber glaub mir, ich nehme diese Sache dennoch sehr ernst, auch wenn alles ziemlich unglaublich klingt. Es interessiert mich einfach, verstehst du? Auch Wissenschaftler sollten ab und zu über ihren Tellerrand hinausschauen.”
„Nun ja.” Noch immer kopfschüttelnd erhob sich Regan und ging zur Tür.
„Und ich sollte jetzt vielleicht das Kochen ernst nehmen.”
„Ich helfe dir.”
Regan zog die Augenbrauen hoch, als Rebecca aufstand. „Erzähl mir jetzt bloß nicht, dass du inzwischen auch noch Kochen gelernt hast.”
Rebecca lachte. „Nein, ich weiß nicht mal, wie man ein Ei kocht.”
„Früher hast du immer behauptet, das sei genetisch bedingt.”
„Ja, ich erinnere mich. Heute denke ich eher, es ist eine Phobie. Kochen ist eine gefährliche Angelegenheit. Man kann sich schneiden oder verbrennen oder verbrühen. Aber ich entsinne mich dunkel, wie man einen Tisch deckt.”
„Das reicht.”
Es war schon spät, als Rebecca sich schließlich in ihr Zimmer zurückzog. Da sie noch zu aufgedreht war, um einschlafen zu können, kuschelte sie sich nun mit einer Tasse Tee und einem Buch in den weichen Polstersessel am Fenster. Vom Flur her drang das leise Weinen des Babys durch die geschlossene Tür zu ihr ins Zimmer, dann hörte sie eilige Schritte. Als einen Augenblick später Stille eintrat, stellte Rebecca sich vor, wie Regan ihr Baby stillte. Diesen Gedanken fand sie befremdlich. Obwohl sie die Freundin heute einen ganzen Abend lang im Kreise ihrer Familie erlebt hatte, fiel es ihr noch immer schwer, sich die Regan Bishop, die sie von früher kannte, als Mutter vorzustellen. Im College war Regan immer spritzig, energiegeladen und an allem und jedem interessiert gewesen.
Natürlich hatte sie auch viel männliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Oft konnte sie sich vor Verehrern kaum retten. Es war aber nicht allein ihr Äußeres, was Regan zu so
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