Hochzeit im Herrenhaus
unverblümt auszudrücken – ein Gewohnheitsmensch.”
Obwohl es ihm missfiel, auf diese Weise charakterisiert zu werden, musste er zustimmen. “Gewiss, im Lauf der Jahre habe ich mich dazu entwickelt.”
“Reiten Sie jeden Dienstag in die Stadt?”
Ehe er die Zügel ergriff und das Gespann in die Richtung des Herrenhauses lenkte, beobachtete er das schwache Lächeln, das Annis’ schön geschwungene Lippen umspielte. Wenn er sich nicht täuschte, spürte sie, dass ihn dieses Gespräch irritierte. Und das schien sie zu belustigen. “Zumindest an jedem letzten Dienstag des Monats, wenn ich meinen Verwalter im Gasthaus treffe”, erklärte er und räusperte sich. “Vielleicht würden Sie das – ein Ritual nennen.”
“Und jeder, der Sie kennt, müsste darüber Bescheid wissen, Sir”, betonte sie. “Sind Sie am fraglichen Dienstag zum üblichen Zeitpunkt nach Hause geritten?”
“Nein, etwas früher. Und ich wäre sogar noch eher aufgebrochen, hätte Colonel Hastie nicht das Gasthaus betreten, als ich es gerade verlassen wollte. Wir unterhielten uns, hauptsächlich über das Jagdpferd, das er mir kurz zuvor verkauft hatte.”
Nach einer kurzen Pause bemerkte sie: “Da Sie ziemlich schnell unterwegs waren, könnten Sie auf dem Rückritt meine Kutsche überholt haben. Darauf haben Sie wohl kaum geachtet … Aber wissen Sie noch, ob es zu schneien anfing, bevor Sie angeschossen wurden?”
“Nein, erst später”, erwiderte er im Brustton der Überzeugung. “Und ich sah keine Menschenseele, nachdem ich von der Hauptstraße abgebogen war. Ich erinnere mich an einen plötzlichen brennenden Schmerz in meinem Arm – dann wachte ich in meinem Bett auf und starrte eine fremde Frau an …” Die ich für ein überirdisches Wesen hielt, ergänzte er in Gedanken. Vor dem hellen Fenster hatte das Tageslicht ihren Kopf wie eine Gloriole umgeben.
“Nun, ich werde Ihnen erzählen, was in der Zwischenzeit geschah”, sagte sie in sachlichem Ton, störte unwissentlich die erfreulichen Fantasiebilder und zwang ihn, in die Gegenwart zurückzukehren. “Ich kam etwa zehn Minuten nach Ihnen zu dieser Stelle, höchstens eine Viertelstunde später. Das schließe ich aus der Tatsache, dass Ihre Wangen noch warm waren. In der dünnen Schneeschicht sah ich keine Fußspuren, nur die Hufabdrücke Ihres Pferdes. Wer immer Sie angeschossen hatte, fand genug Zeit, um zu verschwinden, bevor ich auftauchte. Offenbar hörte er die herannahende Kutsche, und so beeilte er sich und flüchtete, ohne Ihre Taschen zu leeren. Darauf hatte er es wahrscheinlich auch gar nicht angelegt. Wenn er aus irgendwelchen Gründen plante, sich an Ihnen zu rächen und Sie zu töten, warum hat er das Werk nicht vollendet?” Verwirrt zog sie die Brauen zusammen. “Entweder war er ein sehr schlechter Schütze – oder ein sehr guter, was ich eher für möglich halte. Vielleicht wollte er Sie nur vorübergehend außer Gefecht setzen und Ihnen keinen bleibenden Schaden zufügen. Was ich nicht verstehe – warum?”
“Seien Sie versichert, Miss Milbank, das ist auch mir ein Rätsel”, gestand der Viscount. “Mit meinen Nachbarn und Pächtern verstehe ich mich recht gut. Mit einigen besser, mit anderen weniger. Seit ich den Titel trage, hatte ich mit niemandem Streit. Aber ich werde über Ihre Schlussfolgerungen nachdenken.” Lächelnd fügte er hinzu: “Ich muss schon sagen, Sie besitzen eine beachtliche Beobachtungsgabe. Nur wenige Menschen hätten so viel registriert, wenn sie auf der Straße über einen bewusstlosen Fremden gestolpert wären.”
“Das habe ich von meinem Vater gelernt, Sir. Wie ich wahrscheinlich schon erwähnt habe, war er Arzt. Manchmal wetteten wir, ob ich die Krankheit eines Patienten erkennen könnte, indem ich seine äußere Erscheinung studierte.”
“Ist es Ihnen gelungen?”, fragte Greythorpe fasziniert.
“In manchen Fällen – ja. Es ist ziemlich einfach, festzustellen, ob jemand die Pocken überlebt hat, als Kind Rachitis hatte oder von der Gicht geplagt wird. Sobald man jedoch einige Erfahrungen gesammelt hat, sucht man nach weniger offensichtlichen Anzeichen und Symptomen. Solche kleinen Anhaltspunkte weisen auf den Gesundheitszustand eines Menschen hin, auf das Leben, das er geführt hat, und gelegentlich sogar auf seinen Charakter.”
“Offensichtlich haben Sie Ihren Vater sehr geliebt, Miss Milbank. Und Ihren Großvater ebenso.” Als sie nickte, stellte er die Frage, die ihn schon seit einiger Zeit
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