Hochzeit im Herrenhaus
beschäftigte. “Beide Gentlemen haben Sie öfter erwähnt. Aber Sie sprechen nie von Ihrer Mutter.”
Annis zog gerade die Kapuze über ihren Kopf, die der Wind heruntergeweht hatte. Sekundenlang erstarrte ihre Hand. “Auch meine Mutter liebte ich sehr, Sir. Seit ihrem Tod vermisse ich sie schmerzlich. Sie hat einen nachhaltigen Einfluss auf mich ausgeübt.”
“Das kann ich mir vorstellen, Miss Milbank. Sie sind die Tochter eines Bürgerlichen aus gutem Haus. Aber Ihr Verhalten und Ihre Ausstrahlung deuten unmissverständlich auf das Blut eines höheren Standes hin, das in Ihren Adern fließt.”
“Auch Ihre Beobachtungsgabe ist bemerkenswert, Sir”, sagte sie leise.
“Darf ich nach dem Mädchennamen Ihrer Mutter fragen?”
“Sie war Lady Frances Stowe, die jüngste Schwester des gegenwärtigen Earl of Tavistoke.”
In diesem Augenblick erkannte der Viscount glasklar, was er in den letzten Tagen vergeblich zu ergründen versucht hatte.
5. KAPITEL
B eeindruckt von Annis’ Scharfsinn und ihren überraschenden, wenn auch ziemlich beunruhigenden Beobachtungen, nahm der Viscount den Lunch ausnahmsweise mit den Damen ein. Danach zog er sich wieder in die Bibliothek zurück. Über den Schreibtisch gebeugt, studierte er alte Papiere, die den Stammbaum der Familie Greythorpe seit der Zeit Wilhelm des Eroberers zeigten. Diesen Moment wählte Sarah, um seiner privaten Domäne einen ihrer seltenen Besuche abzustatten.
Keineswegs verärgert über die Störung, winkte er sie gebieterisch zu sich. “Tritt nur näher und schau dir das an, Sally”, sprach er sie mit dem Namen an, den er ihr in der Kindheit gegeben hatte.
Was er so interessiert betrachtete, erkannte sie sofort. “Diese Papiere habe ich jahrelang nicht mehr gesehen.”
“Nein, ich auch nicht. Vorhin bat ich Dunster, sie herauszusuchen, und er fand sie in einer Truhe auf dem Dachboden.” Unbewusst strich er sich übers Kinn. “Wie du selber oft genug festgestellt hast, ist Dunster ein ganz hervorragender Dienstbote, dem nichts entgeht. Nachdem ich von dir erfuhr, er habe Miss Milbank im exquisiten grünen Gästezimmer einquartiert, hätte ich sofort merken müssen, dass viel mehr in ihr steckt, als man es auf den ersten Blick wahrnimmt. Das muss unserem Butler schon am Tag ihrer Ankunft aufgefallen sein.”
“Eigenartig – Miss Milbanks wegen bin ich zu dir gekommen. Warum hast du sie gebeten, noch länger bei uns zu bleiben?”
“Hast du etwas dagegen?”, fragte er erstaunt. “Ich dachte, du würdest dich darüber freuen.”
“O ja, natürlich”, versicherte sie hastig. “Ich hatte nur den offensichtlich falschen Eindruck gewonnen, du würdest ihre baldige Abreise wünschen.”
“Damit hattest du recht, und es war auch ihre Absicht.” Greythorpe neigte sich wieder über die Papiere, die auf dem Schreibtisch lagen. “Aber ich habe sie überredet, unsere Gastfreundschaft noch etwas länger zu akzeptieren. Und ich hoffe sogar, sie wird uns bis zur Party im nächsten Monat Gesellschaft leisten.” Er wandte sich wieder zu seiner Schwester, die verblüfft die Stirn runzelte, und fühlte sich zu einer Erklärung bemüßigt. “Nun, sie könnte uns helfen, Bekanntschaft mit unserer Halbschwester zu schließen, falls Helen hier eintreffen sollte. Und in der Zwischenzeit würde sie sich um Louise kümmern und dich somit entlasten. Dann hättest du genug Zeit, um Grandmamas Geburtstagsfeier vorzubereiten.”
Prüfend schaute er sie an. Würde sie seine Worte als Kritik an ihren mangelnden Fähigkeiten auffassen? Das beabsichtigte er keineswegs. Nur zu gut wusste er, wie sehr sie unter dem zurückgezogenen Leben litt, das der selbstsüchtige, gefühllose Vater ihr aufgezwungen hatte. Er selbst war der beklemmenden Atmosphäre dieses Hauses wenigstens zeitweise entronnen, während er in Eton und Oxford studiert, den Familiensitz in Derbyshire verwaltet und ausgedehnte Reisen unternommen hatte. So glücklich war die arme Sarah nicht gewesen. Nach zwei Saisons in London, wo kein Bewerber Interesse an ihr gezeigt hatte, fand sie sich – nach der Meinung ihres Bruders – viel zu früh mit dem Dasein einer alten Jungfer ab. In Greythorpe Manor gefangen, hatte sie den kränkelnden Vater bis zu seinem Tod gepflegt, ohne liebevollen Dank für ihre Mühe zu erhalten. War es verwunderlich, dass sie sich zu einem verschlossenen Menschen entwickelt hatte und ihre eigene Gesellschaft bevorzugte?
“Natürlich freue ich mich, wenn Miss Milbank noch
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