Hochzeit im Herrenhaus
Annis festzustellen, welche Gefühle die Neuankömmlinge in den Hausbewohnern erregten. Der Viscount, der in der Nähe der Gäste saß, starrte den Teppich an. Wie üblich verriet seine Miene nicht, was er dachte. Sarah lächelte liebenswürdig.
Aber am interessantesten benahm sich Louise. Offenbar verkroch sie sich wieder ins Schneckenhaus ihrer Scheu. Nachdem sie neben Annis auf dem Sofa Platz genommen hatte, rückte sie immer näher zu ihr heran, als hoffte sie, Schutz vor den Besuchern zu finden.
“Außerdem hörten wir, Miss Milbank habe die gute Samariterin gespielt und dich in ihrer Kutsche nach Hause gefahren, Greythorpe”, fuhr der andere Zwilling fort, während seine Schwester die fremde junge Dame musterte. “An jenem Tag begaben wir uns mit Mama in die Stadt. Hätte sie nicht mit dem Colonel und Mrs. Hastie geplaudert, wären wir früher zum Schauplatz des Anschlags gelangt. Dann hätten wir Miss Milbank die Mühe erspart und dich hierhergebracht.”
“Oh, sie tat noch viel mehr, Fanhope”, erwiderte Seine Lordschaft. “Sie behandelte die Schusswunde, und Dr. Prentiss versicherte, er hätte es nicht besser machen können. Und so muss ich mich glücklich schätzen, weil Cousine Annis zufällig vorbeikam, nachdem ich angeschossen wurde. Übrigens, ob es ein
Unfall
war, bezweifle ich inzwischen.”
“Oh – aber …”, jammerte Miss Fanhope. “Um Gottes willen, wer sollte dich
absichtlich
mit einer Feuerwaffe angreifen? Soviel ich weiß, hast du keine Feinde.”
“Nur ganz wenige Gentlemen dürfen behaupten, sie seien überall beliebt”, warf Annis mit sanfter Stimme ein. “Und es ist erstaunlich, wie oft kleine Missstimmigkeiten manchmal – ohne besondere Provokation – erschreckende Ausmaße annehmen. Natürlich vermute ich nicht, dass – eh – Cousin Deverel jemandem die Nase eingeschlagen hat”, fügte sie hinzu und sah die dunkelblauen Augen des Viscounts glitzern. “Aber wie es nun einmal in der menschlichen Natur liegt, einige Leute hegen aus den seltsamsten Gründen einen wachsenden Groll gegen jemanden, der ihnen nichts zuleide getan hat.”
Entschieden schüttelte Caroline Fanhope den Kopf. “Würden Sie aus dieser Gegend stammen, Miss Milbank, wüssten Sie, welch hohes Ansehen Lord Greythorpe genießt. Hier werden Sie kein einziges böses Wort über ihn hören.”
“Darauf kommt es an, Caroline”, betonte der Viscount. “Meine Cousine lebt nicht hier. Deshalb kann sie die Ereignisse etwas objektiver betrachten als wir. Dies alles beurteilt sie auf eine erfrischende, bodenständige Art. Und ich schätze ihre Meinung. Übrigens, Sarah und ich hoffen, sie wird noch lange bei uns bleiben.”
“Tatsächlich?” Caroline richtete einen kühlen Blick auf Annis. “Ist das Ihr erster Besuch in Greythorpe Manor, Miss Milbank? Wenn ich mich recht entsinne, sind wir uns nie zuvor begegnet.”
“Nein, noch nie”, bestätigte Annis. “Da ich nur sehr weitläufig mit den Greythorpes verwandt bin, habe ich diese familiären Bande nie erwähnt. Aber ich kenne Helen Greythorpe sehr gut, und ich kam hierher, um mit Seiner Lordschaft über seine Halbschwester zu sprechen. Nicht aus
persönlichen
Gründen.”
Diese Enthüllungen schienen Caroline zu faszinieren. Eifrig begann sie Fragen zu stellen, die zumindest an der Oberfläche harmlos wirkten. “Da Sie in den Shires aufgewachsen sind, gehen Sie sicher oft zur Jagd, Miss Milbank.”
“Keineswegs.”
“Oh … Haben Sie eine Abneigung gegen Pferde?”
“Ganz im Gegenteil, ich liebe Pferde, und ich reite sehr gern.”
“Wie nett! Stellen Sie sich doch vor, unentwegt bitte ich Louise, wieder in den Sattel zu steigen und mit mir auszureiten. Leider ohne Erfolg … Falls sie diese kindische Angst nicht überwindet, wird sie niemals irgendetwas zustande bringen. Finden Sie nicht auch, Miss Milbank?”
“Nein”, entgegnete Annis energisch, worauf nicht nur Miss Fanhope die Stirn runzelte. “Es ist sehr schwierig, solche Ängste zu bekämpfen. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Seit ich denken kann, fürchte ich mich vor dunklen, geschlossenen Räumen. Wenn man einen Menschen zwingt, der Ursache seines Grauens ins Auge zu blicken, wird man ihm eher schaden als nützen. Und Louise hat keinen Grund, sich zu schämen, weil sie Pferden aus dem Weg geht. Dafür brilliert sie am Pianoforte – ein Talent, das die Reitkunst in den Schatten stellt, zumindest nach meiner Meinung.”
Offenbar war Miss Caroline Fanhope nicht daran
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