Hochzeit im Herrenhaus
Allgemeinen sind ältere Gentlemen etwas lebensklüger und fallen zarteren Emotionen nicht so leicht zum Opfer. Und ihre Gesellschaft erscheint mir erstrebenswerter.”
“Sind Sie deshalb so oft mit meinem Cousin zusammen?”, fragte Louise unschuldig. “Jedenfalls weiß ich, wie gern er sich mit Ihnen unterhält. Sogar Sarah meint, ihr Bruder hätte sich in der Gegenwart einer jungen Dame schon lange nicht mehr so wohlgefühlt.”
Ist das wahr, fragte sich Annis verwundert. Und wenn ja, warum fand sie das so beglückend? Gewiss, sie verstand sich sehr gut mit dem Viscount. Da er, genau wie sie, von Natur aus zur Vorsicht neigte, war es erstaunlich, wie schnell sich ihre Freundschaft entwickelt hatte. Und seit dem unglückseligen Abenteuer im Eiskeller erschien ihr die Beziehung noch etwas – vertraulicher.
Nur sekundenlang empfand sie die gleichen eigenartigen Gefühle wie am Vortag, als sie von starken Armen ins Herrenhaus getragen worden war. Und dann gewann ihre Vernunft die Oberhand. Keinesfalls durfte sie sich albernen Illusionen hingeben, die zu Missverständnissen führen und den Viscount ebenso wie sie selbst in Verlegenheit bringen könnten. Zweifellos würde das der wunderbaren Freundschaft ein jähes Ende bereiten.
Trotzdem war sie ehrlich genug, um die Wahrheit zu gestehen. “Ja, Louise, ich genieße die Gesellschaft Ihres Cousins. Kein Wunder, denn er ist hochintelligent und warmherzig. Aber ich bitte Sie – deuten Sie diese Freundschaft nicht falsch. Niemals wäre ich so töricht, einen Bewerber in Lord Greythorpe zu sehen. Und er würde nicht einmal im Traum daran denken, mich zu heiraten.” Noch während sie die Worte aussprach, wünschte sie, es wäre anders. Doch sie war viel zu vernünftig, um sich etwas vorzumachen. “Wenn ich auch die Tochter eines Gentleman bin – der Gesellschaftsschicht des Viscounts gehöre ich nicht an.”
Eine Zeit lang schwieg Louise, verwirrt und enttäuscht zugleich. Dann schaute sie zum Haus hinüber und runzelte die Stirn. “O Gott, die Fanhopes sind immer noch da!”
Da Annis sich nicht vorstellen konnte, Caroline würde ihren Besuch auf so unschickliche Weise in die Länge ziehen, beugte sie sich im Sattel vor und folgte dem Blick des Mädchens. “Da irren Sie sich, das ist kein Phaeton, sondern ein Gig. Keine Ahnung, wer da gerade aussteigt. Jedenfalls nicht Charles Fanhope.”
Louise kniff die Augen zusammen und musterte den Wagen etwas genauer. “Oh, das ist mein Bruder Tom!”, jubelte sie. Und dann verblüffte sie ihre Eskorte erneut, indem sie die Stute zum Galopp antrieb.
8. KAPITEL
S o wie der Viscount zählte auch Thomas Marshal zu den Menschen, die Annis sehr schnell einschätzte. Sie mochte ihn auf Anhieb und fand seine unbefangene, humorvolle Art sehr erfrischend, im Gegensatz zu den gestelzten Manieren, die so viele junge Gentlemen in seinen Kreisen anstrebten und zu perfektionieren suchten.
Wie sich bald herausstellte, liebte er seine jüngere Schwester heiß und innig – ein Gefühl, das sie ebenso rückhaltlos erwiderte. Jeden Wunsch las er ihr von den Augen ab, und er begleitete sie jedes Mal, wenn sie ausritt, was immer häufiger geschah. Meistens war er fröhlich gestimmt.
Zu
fröhlich, entschied Annis und begann ihn aufmerksam zu beobachten. Und da ertappte sie ihn manchmal dabei, wie er ins Leere starrte, die Stirn leidvoll gefurcht.
Aber obwohl sie seine Gesellschaft genoss, wollte sie sich nicht mit Problemen befassen, die sie nichts angingen und die sie vermutlich auch nicht zu lösen vermochte. Was wusste sie schon von den privaten Angelegenheiten unverheirateter junger Gentlemen? Gar nichts. Und so hätte sie niemals von seinem Kummer erfahren, wäre Tom eines Morgens nicht zufällig in die Bibliothek gekommen, während sie allein am Schreibtisch saß und einen Brief an ihre Tante und ihren Onkel verfasste.
“Wenn Sie Ihren Vetter suchen, Sir – er ist in die Stadt geritten”, erklärte sie. “Vor dem Lunch wird er sicher zurückkommen.”
“Oh, es ist nicht so wichtig.” Sein lässiges Achselzucken hätte sie getäuscht, wäre ihr jene schwermütige Miene nicht so oft aufgefallen.
Skeptisch hob sie die Brauen. “Sind Sie sicher?”
Sein jungenhaftes Grinsen erlosch. “Ja, natürlich, Miss Milbank. Warum zweifeln Sie daran?”
Nun hätte sie einer warnenden inneren Stimme gehorchen und seine Antwort akzeptieren müssen, statt weitere Fragen zu stellen.
Hast du deiner Tante und deinem Onkel nicht soeben
Weitere Kostenlose Bücher