Hochzeit im Herrenhaus
Niemals hatte sie gezögert, ihre Meinung zu äußern. Und das hatte schon oft zu lebhaften, interessanten Diskussionen geführt. Unglücklicherweise eiferte sie ihrer albernen, selbstsüchtigen Mutter nach, die unerschütterlich von ihrer eigenen Wichtigkeit überzeugt war. Und das bewirkte, dass auch die Tochter glaubte, sie wäre etwas Besseres.
War das der Grund, warum er sich geweigert hatte, die Erwartungen so vieler Leute zu erfüllen und ihr einen Heiratsantrag zu machen? Zweifellos wäre sie eine ideale Viscountess, und soviel er wusste, hätte sein Vater die Verbindung begrüßt. Allein schon das hatte wahrscheinlich genügt, ihn davon abzuhalten, der jungen Dame den Hof zu machen – ganz einfach, weil es ihm gegen den Strich gegangen war, die Wünsche seines lieblosen Erzeugers zu erfüllen. Außerdem – warum sollte
er
Lord Fanhope für den schlechten Rat entschädigen, den der alte Viscount ihm vor Jahren gegeben und der ihn fast um sein ganzes Vermögen gebracht hatte? Nicht dass Lord Fanhope, ein ehrenwerter Gentleman, die Folgen der katastrophalen Investition jemals einem anderen als sich selbst angelastet hätte …
Geistesabwesend streichelte der Viscount Rosies seidigen hellbraunen Kopf. Ja, vor einiger Zeit hatte er ernsthaft erwogen, Caroline zu heiraten. Jetzt nicht mehr. Je eher er diese Tatsache klarstellte, desto besser. Natürlich würde er das Herz der jungen Dame nicht brechen. Wenn Caroline ihren künftigen Ehegemahl wählte, würde sie so vulgäre Emotionen wie Liebe nicht berücksichtigen. Für sie zählten nur die gesellschaftliche Position und die Pflichten ihrer Familie gegenüber. Tiefere Gefühle überließ sie den Menschen, die sich dergleichen leisten konnten oder dumm genug waren, auf solche Banalitäten zu achten.
Wie auch immer, aufgrund der langjährigen Freundschaft war er ihr eine ehrliche Erklärung schuldig, damit sie andere Bewerber in Betracht ziehen konnte, statt auf einen Antrag zu warten. Ihre Familie litt nicht mehr unter finanziellen Schwierigkeiten, und so würde sie Caroline sicher eine zweite Londoner Saison bieten.
Während er der Konversation lauschte, schweiften seine Gedanken bald ab und wanderten zu der Besitzerin des Spaniels, der zu seinen Füßen saß. Wäre sie doch hier, dann würde sie die langweiligen Gespräche beleben …
Träumerisch lächelte er vor sich hin. Wie schnell er sich an Annis’ unverblümte Äußerungen und ihren ironischen Humor gewöhnt hatte … Wie sehr er die amüsanten Wortgefechte genoss, die abends an der Dinnertafel stattfanden … Sie war eine höchst ungewöhnliche junge Dame, die ihn immer wieder überraschte. Inständig wünschte er, sie würde bald von ihrem Ausritt zurückkehren.
Wenn es der Viscount auch nicht ahnte – diese Hoffnung musste er begraben. Sobald Louise den Phaeton der Fanhopes in die lange, von Eiben gesäumte Zufahrt zum Herrenhaus biegen sah, spornte sie zur Verblüffung ihrer Begleiterin und des Oberreitknechts die graue Stute an und ritt zum Wald.
“Gut gemacht!”, lobte Annis, nachdem sie das Mädchen gemeinsam mit Wilks eingeholt hatte. “Nun hat sich wieder einmal gezeigt, wozu man fähig ist, wenn man seine Angst besiegt.”
Louise lachte fröhlich. “Wenn ich mir aussuchen darf, ob ich meine Hand von Mr. Fanhope tätscheln lasse oder vom Pferd fallen will, ziehe ich Letzteres vor.”
“Ja, das verstehe ich, meinem Geschmack entspricht er auch nicht”, gab Annis zu. “Da fällt mir ein – ich muss Ihnen einen perfekten vernichtenden Blick beibringen. Wie ich oft genug festgestellt habe, ist das eine unentbehrliche Waffe im Kampf gegen die unwillkommenen Annäherungsversuche eines Gentleman. Nicht dass ich jemals in die Gefahr geraten werde, Mr. Fanhopes Liebesglut abwehren zu müssen, da ich wohl kaum den Frauentyp verkörpere, den er bevorzugt …”
Neugierig wandte sich Louise zu ihr. “Sind Sie deshalb immer noch unverheiratet, Annis? Weil Sie alle Gentlemen entmutigt haben, die an Ihnen interessiert waren? In Ihrem Alter müssen Sie schon mehrere Heiratsanträge erhalten haben.”
“Wie können Sie nur auf mein Alter hinweisen, Sie unartiges Mädchen!”, schimpfte Annis im Scherz. “Um die Wahrheit zu gestehen, allzu viele Anträge bekam ich nicht”, fügte sie hinzu, während sie in gemächlichem Tempo den Rückweg antraten. “Seit einigen Jahren meide ich die Gesellschaft jüngerer Männer, um keine Herzen zu brechen oder Selbstwertgefühle zu verletzen. Im
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