Hochzeit im Herrenhaus
andere Frau behauptet, die Tür des Eiskellers sei verschlossen gewesen, wäre er zu der Überzeugung gelangt, die Angst müsste ihre Sinne verwirrt haben. Auf Annis traf das sicher nicht zu. Sie achtete viel zu sehr auf diverse Einzelheiten. Und sie würde sich niemals von unvernünftiger Furcht überwältigen lassen.
Jetzt runzelte sie nachdenklich die Stirn, und er glaubte zu spüren, dass sie sich an irgendetwas zu erinnern versuchte. “Ein Rätsel, nicht wahr? Vergiss es erst einmal”, empfahl er ihr sanft. “Wenn du tapfer genug bist, werden wir morgen zum Schauplatz deines unerfreulichen Abenteuers zurückkehren. Vielleicht können wir feststellen, warum sich die unverschlossene Tür nicht öffnen ließ.”
Da Rosie immer wieder in ihr Schlafzimmer zurückkehrte, nachdem sie dreimal in die unteren Regionen des Hauses gebracht worden war, gab Annis schließlich klein bei. Was anderes blieb ihr auch gar nicht übrig, und so erlaubte sie der Hündin, bei ihr zu bleiben. Nun verbrachte der Spaniel seine erste Nacht im neuen Heim. Am Fußende des Betts seiner geliebten Herrin zusammengerollt, schlief er tief und fest.
Auch Annis genoss eine erholsame Nacht. Nur ein einziges Mal schreckte sie aus einem lebhaften, beunruhigenden Traum hoch. Diese grausige Vision musste die Überzeugung hervorgerufen haben, sie wäre tatsächlich im Eiskeller eingesperrt worden, wenn auch nur für kurze Zeit. Und während sie die Besinnung verloren hatte, war der Riegel zurückgeschoben worden … Diese Erkenntnis bestärkte sie in dem Entschluss, das unheimliche Gefängnis noch einmal aufzusuchen.
Am nächsten Vormittag ließ sich die Tür des Eiskellers von innen öffnen, wenn auch etwas mühsam. Annis trat erleichtert hinaus. Natürlich war es diesmal anders, denn der Viscount wartete draußen und hätte ihr sofort geholfen, wäre sie in Schwierigkeiten geraten.
Doch das änderte nichts an der Tatsache, dass sie sich aus eigener Kraft befreit hatte. “Ja, ich weiß, was du denkst, Cousin Deverel”, seufzte sie, als sie seine skeptische Miene sah. “Jetzt habe ich keine Angst, weil du bei mir bist. Obwohl das Holz verbogen ist und die Tür über das Kopfsteinpflaster des Bodens scharrt, konnte ich sie aufziehen. Und das wäre mir auch gestern gelungen, trotz meiner Furcht – hätte nicht irgendjemand, der mir durch den Park gefolgt sein muss, den Riegel vorgeschoben. Danach hörte ich ein boshaftes Gelächter. Nachdem ich das Bewusstsein verloren hatte, zog diese Person den Riegel wieder zurück.”
Mit schmalen Augen starrte er vor sich hin, und Annis erkannte, dass sie ihm wenigstens zu denken gab. Sofort nutzte sie die Gunst der Stunde.
“Der Wind frischte erst etwas später auf. Da hatte ich den Eiskeller bereits betreten. Also scheidet die Möglichkeit aus, die Tür könnte geklemmt haben, nachdem sie von einer plötzlichen Bö zugeworfen worden war. Schau doch …” Sie zeigte auf deutlich sichtbare Kerben im Türrahmen. “Um sie zu schließen, muss man einige Kraft aufwenden. So stark war der Wind gestern nicht.”
Nachdem der Viscount die Tür ein paarmal geöffnet und geschlossen hatte, gab er Annis allerdings recht. Offenkundig war ihre Gefangenschaft im Eiskeller kein Missgeschick gewesen – auch keine Folge ihrer Panik, die sie verwirrt hatte. “Wer sollte so etwas tun?”, fragte er sanft. “Verdächtigst du einen Dienstboten? Sarah? Louise? Oder mich?”
“Nein, selbstverständlich nicht!”, erwiderte sie in entschiedenem Ton. “Kein Dienstbote würde einem Hausgast einen so üblen Streich spielen und seine Entlassung riskieren. Außerdem hat Sarah erwähnt, die meisten eurer Leute wären schon seit Jahren hier beschäftigt. Anscheinend sind sie zufrieden, und so würden sie ihre Positionen nicht gefährden.”
Seufzend zuckte sie die Achseln. Sosehr sie sich auch den Kopf zerbrach, sie fand keine Erklärung für den Zwischenfall, den sie als Dummerjungenstreich abgetan hätte, wäre der Viscount in der vergangenen Woche nicht angeschossen worden.
“So wie der Anschlag auf dich erscheint mir diese Attacke gegen mich völlig sinnlos. Man ist versucht, einen albernen, kindischen Schabernack zu vermuten. Aber ich glaube keine Sekunde lang, dass ein Kind dahintersteckt.”
“Wohl kaum”, stimmte Greythorpe zu. “Andererseits – ein vernünftiger Erwachsener kann es auch nicht gewesen sein. Und so frage ich mich, welche bösartigen Wahnsinnstaten der Schuldige sonst noch
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