Hochzeit im Herrenhaus
und Annis bemühte sich ihr Entsetzen und ihre Missbilligung zu verhehlen. Da sie sich erst seit kurzer Zeit kannten, stand es ihr natürlich nicht zu, dem jungen Mann Vorwürfe zu machen. Die würde er ohnehin von seiner Familie zu hören bekommen. “Und was haben Sie jetzt vor? Können Sie das Geld irgendwie aufbringen?”
“Da gib es einen Verwandten, der bereit wäre, mir zu helfen. Großonkel Cedric würde mich zwar einen gottverdammten Narren nennen, aber nicht den Stab über mich brechen. Leider besucht er gerade ein paar Freunde in Irland. Es würde zu lange dauern, ihn aufzuspüren. Und wie ich erwähnt habe, will Fanhope sein Geld am Monatsende haben. Das darf ich ihm nicht einmal verdenken, denn er hat schon lange genug gewartet. Also wollte ich Greythorpe in der Bibliothek aufsuchen und ihm mitteilen, ich müsse sofort nach London fahren, um dringende Geschäfte zu erledigen. Natürlich wird Louise bitter enttäuscht sein, denn ich hatte versprochen, ich würde sie morgen Abend zu der Party bei den Fanhopes begleiten. Aber was soll ich tun, Miss Milbank? Ich muss das Geld beschaffen. Und ich sehe nur eine einzige Möglichkeit.”
Erschrocken hielt sie den Atem an. “Denken Sie etwa an einen dieser skrupellosen Wucherer?” Ohne eine Antwort abzuwarten, beschwor sie ihn: “O nein, Tom, das dürfen Sie nicht! Sobald Sie in die Klauen eines solchen Schurken geraten, werden Sie sich nie mehr befreien können.”
“Das weiß ich”, stöhnte er und schlug die Hände vors Gesicht. “Aber ich habe keine Wahl. Niemals würde ich Verwandte und Freunde um Hilfe anflehen, es wäre zu demütigend. Nachdem ich mich so leichtsinnig in diese üble Lage gebracht habe, muss ich selber sehen, wie ich da wieder herauskomme.”
Annis überlegte nicht lange. “Da Sie sich nicht an Seine Lordschaft wenden wollen, was Sie tun sollten, gibt es noch eine andere Möglichkeit –
ich
werde Ihnen das Geld leihen.”
Zunächst glaubte sie, er hätte das Angebot nicht gehört, dann ließ er langsam die Hände sinken. “
Sie
, Miss Milbank? Aber …” Anscheinend fiel es ihm schwer, zu verstehen, was sie gesagt hatte. “Können Sie denn – eine solche Summe auftreiben?”
“Ja, natürlich”, entgegnete sie und fürchtete, ihre Stimme hätte ziemlich bissig geklungen. “Glauben Sie, sonst hätte ich mich dazu bereit erklärt?”
“Großer Gott! Niemals hätte ich gewagt …”
“Das merke ich”, unterbrach sie ihn und wartete, bis er wieder etwas klarer denken konnte. Es dauerte nicht lange, und sie beobachtete, wie die Verzweiflung in seinem Blick einem neuen, zaghaften Hoffnungsschimmer wich. Trotzdem schüttelte er den Kopf. “Wie edelmütig Sie sind, Miss Milbank … Aber ich kann und darf Ihre Großzügigkeit nicht ausnutzen.”
“Mein lieber Tom, offenbar stehen Sie unter dem falschen Eindruck, ich würde meinen Bankier beauftragen, einen einfachen Schuldschein auszustellen.” Interessiert beugte er sich vor, und Annis schenkte ihm ein freundliches Lächeln. “O nein, keineswegs. Ich leihe Ihnen das Geld für einen bestimmten Zeitraum, zu einem festgelegten Zinssatz. Sobald ich nach Leicestershire zurückgekehrt bin, wird mein Vermögensverwalter alles Nötige in die Wege leiten und einen Vertrag aufsetzen, der uns beiden zusagt. Nun brauche ich nur noch Ihre Adresse in Oxford. Und Sie müssen vorerst nichts weiter tun, als Ihrer Schwester amüsante Gesellschaft zu leisten.”
Am späteren Vormittag begegnete Annis dem Viscount in der Ahnengalerie, wo er das Porträt seines Vaters anstarrte, das sie neulich studiert hatte. Was er dachte, verriet seine Miene nicht. Seine Absicht war leichter zu erkennen, denn er trug seinen Reitrock. Offensichtlich befand er sich auf dem Weg zu seinen Privatgemächern im Westflügel, wo er sich umkleiden wollte.
Während er das Bild inspizierte, nahm er ihre Anwesenheit nicht wahr, und Annis nutzte die Gelegenheit, um ihn zu betrachten.
Als schönen Mann konnte man ihn nicht bezeichnen, doch seine markanten, maskulinen Züge machten ihn durchaus attraktiv. Und eins stand fest – er besaß eine wohlgeformte, kraftvoll gebaute Gestalt, die in seiner Reitkleidung gut zur Geltung kam. Ein Stiefelmacher würde wohl kaum längere, muskulösere Beine finden, die seine Ware ins rechte Licht rückten. Und so mancher Schneider wäre stolz, das Ergebnis seiner Arbeit an diesen breiten Schultern zu sehen. Jede Frau, die den Viscount nicht sofort bewundern würde, müsste blind
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