Hochzeit im Herrenhaus
“Und ich glaube auch gar nicht, dass er die Attacke gegen mich verübt oder arrangiert hat. Kein einziges Mal ist er mir oder einem Mitglied meiner Familie feindselig begegnet. Ganz im Gegenteil. Er förderte sogar einen engeren Kontakt zwischen den beiden Häusern, indem er Sarah und mich in unserer Kindheit sehr oft einlud. Außerdem hat er meinen Vater bis zu dessen Tod regelmäßig besucht. Diese Geschichte habe ich dir nur erzählt, um zu veranschaulichen, wie schwierig es ist, die Identität des Angreifers festzustellen. Ich wäre der Letzte, der behaupten würde, mein Vater sei ein liebenswerter Mensch gewesen. Im Lauf seines Lebens fand er nur wenige Freunde. Aber er hatte auch keine Feinde. Der alte Viscount hat nichts verbrochen, was irgendjemanden bewegen könnte, sich an seinem Erben zu rächen. Also scheidet dieses Tatmotiv aus.”
“Ebenso wie ein Raubüberfall.”
Seine Lordschaft nickte. “Was bleibt noch übrig?”
“Was mir zu denken gibt – du wurdest nur leicht verletzt. Vielleicht hat der Angreifer nicht erwartet, um diese Jahreszeit würden fremde Reisende die Straße entlangfahren und dich am Boden liegen sehen. Und du wurdest angeschossen, damit dich eine ganz bestimmte Person findet.”
“Wenige Tage später sperrte der Missetäter dich im Eiskeller ein, weil du seine Pläne vereitelt hattest – ein ziemlich törichter Racheakt.” Langsam wanderte er durch die Galerie in die Richtung des Westflügels.
“Immerhin wäre es eine Überlegung wert”, erwiderte Annis. In Gedanken versunken, folgte sie ihm unwillkürlich. “Natürlich hat die Sache einen Haken. Niemand konnte wissen, dass ich an jenem Tag den Eiskeller erforschen würde. Das hatte ich ganz spontan beschlossen, ebenso wie meinen Besuch im Stall. Entweder muss mich jemand seit meiner Ankunft hier ständig beobachtet und eine Gelegenheit abgewartet haben, um mir etwas anzutun. Daran zweifle ich, denn deinen Dienstboten wäre eine dubiose Gestalt, die sich unbefugterweise hier herumtrieb, sicher aufgefallen. Oder die beiden Zwischenfälle hängen gar nicht zusammen.”
“Und wenn es jemand war, der sich hier zeigen kann, ohne Aufsehen zu erregen? Dann müsste der Schurke zum Personal gehören – oder zur Familie.”
“Nein, daran denkst du nicht ernsthaft”, entgegnete Annis nach kurzem Zögern. “Und ich ziehe das auch nicht in Betracht. Möglicherweise war es doch ein Windstoß, der die Tür des Eiskellers zuwarf – und in meiner blinden Panik konnte ich mich nicht befreien …”
Mit dieser Theorie überzeugte sie den Viscount ebenso wenig wie sich selbst. Plötzlich kam ihm ein neuer Gedanke. “An jenem Tag war Fanhope hier. Gewiss, es gibt keinen Grund, ihn zu verdächtigen. Wenn sein Vater keinen Groll gegen mich hegt – warum sollte Charles mir zürnen, der am allerwenigsten leiden musste, nachdem der alte Viscount jenen finanziellen Fehlschlag verursacht hatte?”
“Ja, das ist wahr.” Eine Zeit lang schwieg Annis, dann kehrte sie zu dem Gedanken zurück, der sie vorhin beschäftigt hatte. “Falls ich auf der richtigen Spur bin und eine ganz bestimmte Person dich damals auf der Straße finden sollte, lautet die interessanteste Frage – warum? Noch wichtiger – will der Schuldige einen weiteren Versuch riskieren, um sein Ziel zu erreichen? Womöglich würde dich ein zweiter Schuss ernsthaft verletzen.”
“Eine erfreuliche Aussicht!”, bemerkte Greythorpe trocken. “So unverblümt solltest du die Gefahren nicht ausmalen, die mir drohen, mein Engel.”
Voller Genugtuung beobachtete er, wie der unerwartete Kosename ihr das Blut in die zarten Wangen trieb.
“Obwohl ich dir keinen unangebrachten Pessimismus vorwerfe und deine Sorge sicher begründet ist, Annis – ich kann nicht ständig hinter alle Hecken oder in sämtliche Straßengräben spähen, um nach einem potenziellen Angreifer zu suchen. Andererseits wäre es vernünftig, vorerst nicht mehr unbewaffnet auszureiten. Auch du musst dich in Acht nehmen. Vor allem darfst du nicht mehr allein durch den Park wandern.”
Um ihre eigene Sicherheit sorgte sie sich nicht, denn sie würde nicht mehr lange hierbleiben. “Nächste Woche werde ich abreisen. Bis dahin wird mir sicher nichts zustoßen.”
“Kann ich dich irgendwie umstimmen?”, fragte er. “Wie gern würde ich meine gute Samariterin bei Grandmamas Geburtstagsfeier der Verwandtschaft vorstellen …”
“Tut mir leid, ich muss nach Leicestershire zurückkehren, um dringende
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