Hochzeit im Herrenhaus
offenbar hat Charles wenigstens eingesehen, dass er für seine Verfehlungen geradestehen und das ergaunerte Geld zurückzahlen muss. Sonst wird man ihn in seinen Gesellschaftskreisen nie wieder akzeptieren.”
“Und warum ist er davongelaufen, wenn er bereit war, seine Opfer zu entschädigen?”
“Weil er ein unreifer Dummkopf ist. Er glaubt, wenn er das Geld zurückzahlt, würde das zu seiner Ehrenrettung vollauf genügen. Er hat keine Lust, für längere Zeit auf die Westindischen Inseln zu übersiedeln und die Plantage zu verwalten, die der Familie gehört – und die bedauerlicherweise nur einen geringen Gewinn abwirft.”
Niemals hätte Annis erwartet, sie würde den niederträchtigen Sohn des Barons bemitleiden. Doch sie irrte sich. “Also das hat Lord Fanhope mit ihm vor. Warum Charles dagegen rebelliert, verstehe ich – nachdem er sich an ein luxuriöses Leben gewöhnt hat.”
Wie sie seiner Miene entnahm, teilte Deverel ihre Meinung nicht. “Wenn er sich einbildet, nach der Rückerstattung der Gelder würde die Gesellschaft ihn mit offenen Armen wieder aufnehmen, ist er ein Narr. So oberflächlich die Mitglieder des
ton
auch sein mögen und so bereitwillig sie sich neuen Klatschgeschichten und Skandalen zuwenden werden – was Charles verbrochen hat, werden sie nicht so schnell vergeben und vergessen.”
Nachdenklich nickte Annis.
“Wenn es auch unglaublich klingt – in unserer Welt hält man einen Mord für ein geringeres Verbrechen als unbezahlte Spielschulden oder Betrügereien am Spieltisch. Aus diesem Grund findet Lord Fanhope, dass sein Sohn erst einmal von der Bildfläche verschwinden muss. Das wäre nicht nur für Charles, sondern auch für die Familie am besten. Bis Gras über die Sache gewachsen ist, wird es eine ganze Weile dauern.” Seufzend wandte Greythorpe sich zum Kamin und blickte in die Glut. “Weiß Gott, ich will mich wirklich nicht mit alldem belasten. Andererseits muss ich den Fanhopes in diesen schweren Zeiten beistehen.”
Den Blick auf die glühenden Kohlen gerichtet, bemerkte er Annis’ forschenden Blick nicht.
“Und so sehe ich mich gezwungen, meine Pläne für die unmittelbare Zukunft zu ändern.” Obwohl er in beiläufigem Ton sprach, als würde er ein belangloses Thema erörtern, spürte sie sein Bedauern und seine Enttäuschung. “Fanhope ist nicht mehr der Jüngste und jetzt, wo die Sorge um die Familie an seinen Kräften zehrt, wohl kaum imstande, allein auf Reisen zu gehen und Charles zu suchen. Deshalb versprach ich ihm, ihn zu begleiten. Da seine Kutsche ziemlich antiquiert und nicht besonders komfortabel ist, werden wir meine eigene benutzen. Den Wagen seines Sohnes möchte er sich nicht aneignen, das verbietet ihm sein Gewissen – trotz der beklagenswerten Umstände.”
Erstaunt hob Annis den Kopf. “Ist Charles nicht in seiner eigenen Chaise weggefahren?”
“Nein, meine Liebe. Mitten in der Nacht stieg er auf seinen protzigen Fuchs und ritt davon. Vielleicht dachte er, eine Flucht auf dem Pferderücken wäre erfolgreicher. Außerdem musste er auf seinen Kutscher verzichten, denn sein Vater hatte ihn veranlasst, alle seine persönlichen Dienstboten zu entlassen.”
Unwillkürlich lächelte Annis. Der Gedanke, ein Flüchtling würde auf einem Pferd, das sich eher für einen Ausritt in Londoner Hyde Park eignete, durch Hampshire galoppieren, war zweifellos amüsant. Plötzlich kam ihr ein neuer Gedanke. “Wäre es möglich, dass er bei irgendjemandem in dieser Gegend Zuflucht gesucht hat?”
“Wenn du das glaubst, traust du ihm eine Intelligenz zu, die er nicht besitzt”, erwiderte der Viscount verächtlich. “Bedenk bitte – seine Fähigkeit, minderwertige Pferde auszuwählen, ist unübertroffen. Nein, ich nehme an, er möchte sich viel weiter entfernen. Wahrscheinlich reitet er nach Oxford. Wie viele Meilen er schaffen wird, bevor er sich genötigt sieht, das Pferd zu wechseln, kann ich nur vermuten.”
Diesmal bezwang Annis ihre Belustigung. “Wann wirst du aufbrechen?”
“In einer Stunde. Tom wird uns begleiten, da er weiß, wo diese Spielhölle liegt, deren Mitbesitzer Charles ist. Wenn wir den Taugenichts dort antreffen, schön und gut. Und wenn nicht, müssen wir uns auf ein viel schwierigeres Unterfangen vorbereiten und ihn in London suchen. Sollte er beschließen, sich für längere Zeit zu verstecken, wäre er in der Hauptstadt am besten aufgehoben. Das würde bedeuten, dass ich erst in ein paar Tagen hierher zurückkehren
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