Hochzeit im Herrenhaus
könnte. Natürlich würde ich in meiner Londoner Residenz wohnen und die Gelegenheit nutzen, um ein paar Geschäfte zu erledigen.” Während einer kurzen Pause musterte er Annis. Die Gedanken hinter seiner gerunzelten Stirn blieben unergründlich. “Warum ich dich zu mir gebeten habe – leider musst du auf meine Reisekutsche verzichten, weil ich sie selber brauche.”
Ob ihn das bedrückte, ließ sich nicht feststellen, denn seine Stimme verriet ebenso wenig wie sein Gesicht. Annis pflegte nicht in selbstsüchtigen Unmut zu verfallen, nur weil gewisse Dinge nicht nach Plan verliefen. “Mach dir deshalb keine Gedanken. Vielleicht wird es ein paar Tage dauern, bis ich eine Postkutsche mieten kann. Deshalb müsste ich deine Gastfreundschaft etwas länger …”
“Selbstverständlich.” Deverel nahm ihr das halb volle Madeiraglas aus der Hand. Behutsam zog er sie auf die Beine, und die sanfte Berührung jagte einen sonderbaren prickelnden Schauer durch ihren Körper. “Ich wollte dich ohnehin bitten, bis zu meiner Rückkehr hierzubleiben. Normalerweise würde ich den Besitz nicht verlassen, während Grandmamas Geburtstagsfeier immer näher rückt und so vieles vorbereitet werden muss. Wie du sicher weißt, ist Sarah durchaus fähig, das alles zu organisieren. Leider sorgt sie sich immer wieder um unwichtige Kleinigkeiten. Wenn irgendetwas nicht so reibungslos abläuft, wie sie es wünscht, regt sie sich furchtbar auf. Zum Glück bist du anders veranlagt, Annis. Du würdest einen beruhigenden Einfluss auf sie ausüben und sie beraten – falls sie das will. Außerdem müssen wir die Ankunft unseres ersten Gastes berücksichtigen. In der übernächsten Woche wird deine Patentante eintreffen. Natürlich möchte ich möglichst bald zurückkommen. Aber sollte ich länger wegbleiben müssen, würde es eine schwere Last von meiner Seele nehmen, wenn ich wüsste, dass hier eine vernünftige Person nach dem Rechten sieht und in meiner Abwesenheit die richtigen Entscheidungen trifft.”
Vielleicht war das nicht ein Lob, wie es die meisten Frauen hören wollten. Eigentlich nicht einmal ein Kompliment … Trotzdem spürte Annis, wie aufrichtig er seine Worte meinte, und so versicherte sie ihm, seinen Wunsch zu erfüllen. Erleichtert ließ er ihre Hände los, verabschiedete sich und eilte aus der Bibliothek, um seine Reisevorbereitungen zu treffen.
Während Annis die Treppe zum oberen Stockwerk hinaufstieg, erinnerte sie sich noch nicht an ihre Devise, niemals überstürzte Entscheidungen zu treffen. Das geschah erst, nachdem sie das Schlafzimmer betreten und die Zofe angewiesen hatte, alles wieder auszupacken. Doch schon wenige Minuten später wurde sie von ernsthaften Zweifeln geplagt.
“Also haben Sie Ihren Entschluss, möglichst bald abzureisen, bereits revidiert?”, rief Eliza irritiert und schüttelte den Kopf. “Offenbar übt Seine Lordschaft keinen guten Einfluss auf Sie aus, Miss Annis. Ich dachte immer, Sie wären eine junge Dame, die weiß, was sie will. Jetzt glaube ich das nicht mehr! Offensichtlich fällt es Seiner Lordschaft nicht schwer, Sie um den kleinen Finger zu wickeln!”
“Welch ein Unsinn!”, widersprach Annis und wusste nicht, ob sie diese absurde Anklage nun beleidigend oder amüsant finden sollte. “Warum bilden Sie sich ein, der Viscount hätte mich bewogen, meine Pläne zu ändern?”
“Wer denn sonst? Um die Wahrheit zu gestehen, Miss – wenn ich annehmen dürfte, Sie wären sich in einer gewissen Sache sicher, würde ich mich wirklich freuen.”
“Leider habe ich keine Ahnung, wovon Sie reden. Nur zu Ihrer Information – wegen der Ereignisse am Freitag auf der Party ist Charles Fanhope letzte Nacht durchgebrannt. Und Seine Lordschaft hat dem Baron angeboten, er würde ihm bei der Suche nach dem Flüchtling helfen.”
“Und?”
“Deshalb braucht Lord Greythorpe seine Reisekutsche selber.”
“Nun, wenn das so ist, können wir eine Postkutsche mieten”, wandte Eliza zum wachsenden Ärger ihrer jungen Herrin ein.
“Ja, das stimmt”, musste Annis zugeben. “Aber er bat mich, bis zu seiner Rückkehr hierzubleiben, um Miss Greythorpe bei den Vorbereitungen für die Geburtstagsfeier zu helfen.”
“Das glauben Sie ihm?” Mit einiger Mühe erhob sich Eliza vom Boden, wo sie vor einer Truhe gekniet hatte, und starrte Annis entgeistert an. “Was ist denn bloß in letzter Zeit mit Ihrem Verstand passiert, Miss? Offenbar nehmen Sie neuerdings für bare Münze, was Ihnen
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