Hochzeit im Herrenhaus
Lektion gelernt.”
Lächelnd erinnerte sie sich an Toms eifriges Versprechen, den Pfad der Tugend nie wieder zu verlassen, und sie hoffte, er würde sein Wort halten.
Was der Viscount von den aufregenden Ereignissen hielt, wusste sie nicht.
In ihr Schlafzimmer zurückgekehrt, faltete sie geistesabwesend ein Kleid zusammen und legte es in eine fast vollgepackte Reisetruhe. Durch das geöffnete Fenster drang das Geräusch rollender Räder herein, und sie nahm an, der Besucher, der vorhin erschienen war, würde wegfahren. Dann kehrten ihre Gedanken zu Deverels verwirrendem Verhalten in den letzten Tagen zurück – und zu den seltsamen Gefühlen, die es in ihr weckte.
Einige Tage zuvor hatte sie ihm mitgeteilt, eine dringende geschäftliche Angelegenheit würde ihre baldige Heimreise erfordern. Sie war erleichtert gewesen, weil er sich nicht etwas genauer nach ihren Beweggründen erkundigt hatte, und dankbar für sein Angebot, seine Kutsche zu benutzen. Außerdem wollte er ihr Dienstboten für die Fahrt zur Verfügung stellen.
Obwohl sie es beschämend fand – sie gestand sich ein, dass sie etwas pikiert war, weil er sie kein einziges Mal ernsthaft gebeten hatte, ihren Aufenthalt in seinem Haus zu verlängern. Neuerdings hatte sich sein Benehmen ihr gegenüber geändert. Grollte er ihr, weil sie Charles Fanhopes wahren Charakter entlarvt hatte? Fand er ihre Anwesenheit in seinem Haus seit jener aufsehenerregenden Szene peinlich? Wie auch immer, er ging ihr aus dem Weg und verbrachte den Großteil seiner Zeit in seinem Refugium, der Bibliothek.
Nun betrat Eliza das Zimmer und unterbrach die Gedanken ihrer Herrin. Und so konzentrierte Annis sich vorerst auf die Aufgabe, ihre Sachen für die Abreise am nächsten Morgen zu packen.
“Das ist meine Aufgabe, Miss”, protestierte die Zofe und legte einen Stapel frisch gewaschener Wäsche beiseite, die sie mitgebracht hatte. “Gerade traf ich Dunster in der Halle. Seine Lordschaft wünscht Sie in der Bibliothek zu sprechen, sobald Sie ein paar Minuten erübrigen können. Offenbar handelt es sich um eine dringende Angelegenheit.”
“Großer Gott!”, rief Annis erstaunt. Mit einer solchen Einladung hatte sie nicht gerechnet – so, wie er sich seit der Party ihr gegenüber benahm. “Was will er denn von mir?”
“Das hat der Butler nicht erwähnt, Miss. Hoffentlich wird Lord Greythorpe sein Angebot, uns die Kutsche zu leihen, nicht zurückziehen. Ich hatte mich so darauf gefreut, stilvoll zu reisen.”
“Was für ein Snob Sie sind!”, mahnte Annis lächelnd und eilte aus dem Zimmer, bevor ihre treue Dienerin gegen diesen schockierenden Vorwurf protestieren konnte.
Äußerlich ruhig und gelassen, in ihrem Inneren aufgewühlt, öffnete sie die Tür der Bibliothek. Unbehagen und der hartnäckige Ärger wichen einer wachsenden Verwirrung, als Greythorpe ihre Hand ergriff und sie zum Kaminfeuer führte. So würde er sich wohl kaum verhalten, wenn er ihr zürnte, weil sie seine nachbarschaftlichen Beziehungen zu den Fanhopes gestört hatte.
“Danke, dass du so schnell zu mir gekommen bist, meine Liebe”, begann er. Nur widerstrebend, wie es ihr erschien, ließ er ihre Hand los, bot ihr Platz in einem der Ohrensessel an und setzte sich in den anderen. “Gerade hat Lord Fanhope mich besucht. Der arme Mann ist völlig verzweifelt. Offensichtlich weigert sich Charles, die Verantwortung für seine Missetaten zu übernehmen. Stattdessen floh er letzte Nacht. Welches Ziel er ansteuert, hat er nicht erwähnt. Nicht einmal Caroline kennt seine Pläne.”
“Ach, du meine Güte”, seufzte Annis und nippte an dem Madeiraglas, das der Viscount ihr gereicht hatte. Leider hellte der Alkohol ihre trübe Stimmung nicht auf. “Lord Fanhope nimmt mir sicher übel, dass ich seine Familie in solche Schwierigkeiten gebracht habe.”
“O nein, daran gibt er sich selber die Schuld”, versicherte Deverel. “Und wie ich hinzufügen muss, mit gutem Grund – worauf ich ihn allerdings nicht hinwies. Schon seit geraumer Zeit fragt er sich, wie Charles seinen aufwendigen Lebensstil mit seiner eher bescheidenen Apanage finanzieren konnte. Und nun bereut er es, seinen Sohn nie zur Rede gestellt zu haben.” Sekundenlang hielt er inne, um sein Glas an die Lippen zu heben und ebenfalls einen Schluck Madeira zu nehmen. “Außerdem macht er sich Vorwürfe, weil er seiner Frau erlaubt hat, den Jungen seit seiner Kindheit zu verwöhnen. Jeden Wunsch las sie ihm von den Augen ab. Aber
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