Hochzeit im Herrenhaus
verstand sie, wie sich die arme Sarah manchmal fühlte – ganz durcheinander, ohne die leiseste Ahnung, was sie tun sollte.
Und dann ging ihr plötzlich ein Licht auf, das all die Rätsel löste. Vermutlich hatte Deverel entschieden, die Geburtstagsparty für seine Großmutter wäre eine ideale Gelegenheit, um noch ein anderes Ereignis zu feiern.
Als sie diese Erklärung fand, hätte sie zur Normalität zurückkehren müssen. Aber nun geschah das Gegenteil. Vor ihren Augen begann die Landschaft des Parks zu verschwimmen, ihr schwindelte, und weil die Beine sie nicht mehr trugen, sank sie auf einen gefällten Baumstamm.
Nie zuvor hatte sie einen so schweren Schock erlitten. Es dauerte eine Weile, bis sie sich fasste – bis sie überlegen konnte, was diese heftigen Gefühle bewirkt hatte.
Vor der Realität zurückzuschrecken, mochte sie auch noch so grausam und schmerzlich sein – das passte nicht zu ihrem Naturell, und sie würde ihr auch jetzt ins Auge blicken. Sie liebte einen Mann, der in drei Wochen seine Verlobung mit Caroline Fanhope bekannt geben würde. Ohne jeden Zweifel, sie liebte ihn über alles.
Ihre Gedanken schweiften zu der Party zurück. In ihrer Fantasie erschienen mehrere Bilder – Deverel in Carolines Gesellschaft, sichtlich zufrieden und voller Zuneigung, und wie sie miteinander getanzt hatten, in vollendeter Harmonie, zwei Hälften einer untrennbaren Einheit …
Hatte er schon an jenem Abend die Verlobung verkünden wollen? Stöhnend griff Annis sich an die Kehle. Wenn das stimmte, durfte sie sich nicht über Deverels distanziertes Verhalten vor seiner Abreise wundern. Unwissentlich hatte sie die Hoffnung der beiden zerstört, ihr Glück mit Verwandten und Freunden zu teilen.
Natürlich hat die gute Eliza die Wahrheit erraten, dachte Annis bedrückt, als sie sich an die verwirrenden Anspielungen ihrer Zofe erinnerte. Nun ergab das alles einen Sinn.
O ja, offenbar hatte Eliza die wachsenden zärtlichen Gefühle ihrer Herrin für den Viscount bemerkt, aber keinen Grund zur Sorge gesehen, denn sie nahm an, Annis würde ihre Emotionen unter vernünftiger Kontrolle halten und verstehen, dass ihre Beziehung zu Greythorpe niemals über eine enge Freundschaft hinausgehen konnte.
Und damit sollte Eliza wohl recht behalten. Wenn sie irgendwo in der Tiefe ihres Herzens diese Tatsache auch bestritten hatte – jetzt fand sie sich damit ab. Selbstverständlich bildete das Schicksal ihrer Mutter eine Ausnahme. Nur ganz selten heiratete ein Mitglied der Aristokratie jemanden, der nicht aus illustren Kreisen stammte. Und vielleicht war das gut und richtig, denn wer wusste besser als sie, welche Schwierigkeiten auftauchten, sobald man von dieser Norm abwich?
Für Lord Greythorpe war Caroline Fanhope die ideale Braut. Dass sie einander nicht heiß und innig liebten, spielte keine Rolle. Vielleicht zog er das sogar vor. Immerhin war die erste arrangierte Ehe seines Vaters erfolgreicher gewesen als die zweite, nachdem er die Frau seiner Wahl geheiratet hatte. Annis würde niemals eine Vernunftehe eingehen, aber in ihren Adern floss ja auch kein reines aristokratisches Blut. Trotzdem hatte sie oft genug bewiesen, dass sie die Tochter ihrer Mutter war – zumindest, was die vornehme Fähigkeit betraf, unpassende Emotionen vor der Welt zu verbergen. Das gelang ihr auch jetzt.
Und so hätte die hochgewachsene Gestalt, die sie unbemerkt beobachtete, von Bäumen verdeckt, niemals erraten, was ihre Seele quälte.
Aber während sie aufstand, sich umsah und den Mann herankommen sah, bekundete sie nur ein einziges, verständliches Gefühl – ein beklemmendes Unbehagen.
12. KAPITEL
R osie ließ sich nirgends blicken. Doch das beunruhigte Annis nicht. Oft genug nahm der Spaniel die Witterung eines Hasen oder eines anderen kleinen Tieres auf und verschwand im Wald, kehrte aber jedes Mal nach kurzer Zeit zurück. Auch die Waffe in der großen Hand des Unbekannten erschreckte sie nicht sonderlich, denn sie wurde nicht drohend erhoben. Nur eins jagte ihr Angst ein – diesen Mann kannte sie nicht.
Sie war allen Bediensteten Seiner Lordschaft begegnet, sogar dem Wildhüter und seinen beiden Gehilfen. Aber diesen Mann hatte sie noch nie gesehen. Was machte er hier am Waldrand? Tagsüber würde er wohl kaum wildern, entschied sie, und so fragte sie ihn, ob er in den Diensten des Viscounts stand.
“Nein, Miss, ich arbeite für niemanden. Was ich
Ihnen
verdanke.”
Diese Information hätte sie erschrecken müssen.
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