Höhenangst
ein, daß ich mich, als ich als Teenager einmal betrunken von einer Party nach Hause gekommen war, dazu gezwungen hatte, das Verhalten eines nüchternen Menschen nachzuahmen.
Aber es hatte mich solch ungeheure Anstrengung gekostet, aufrecht und ohne zu stolpern um das Sofa und die Sessel zu gehen, und ich hatte dabei so extrem nüchtern gewirkt, daß meine Mutter sofort gefragt hatte, was ich denn angestellt hätte. Wahrscheinlich hatte ich außerdem nach Alkohol gerochen. Heute mußte ich es unbedingt besser machen als damals. Ich mußte die Beamten überzeugen.
Immerhin war es mir gelungen, Greg zu überzeugen, auch wenn mir das nicht sehr viel eingebracht hatte. Was die Leute von der Polizei betraf, war es gar nicht entscheidend, sie ganz zu überzeugen. Es reichte, daß sie meiner Geschichte soweit Glauben schenkten, daß sie zumindest in Betracht zogen, daß es in dieser Sache tatsächlich etwas zu ermitteln gab. Ich durfte auf keinen Fall dort hinaus – hinaus in die Welt, in der Adam auf mich wartete.
Zum erstenmal seit Jahren hatte ich wieder das Gefühl, dringend die Hilfe meiner Eltern zu benötigen – aber nicht so, wie sie inzwischen waren: alt und unsicher, festgefahren in ihrer negativen Meinung über mich und blind für die Schrecken der Welt. Nein, ich hätte sie so gebraucht, wie ich sie als kleines Mädchen gesehen hatte, bevor ich anfing, ihnen zu mißtrauen: als verantwortungsvolle, zuverlässige Menschen, die mir sagten, was richtig und was falsch war, mich vor Schaden bewahrten und mich leiteten. Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie meine Mutter in dem großen Sessel unter dem Fenster gesessen und Hemdknöpfe angenäht hatte, und wie kompetent und sicher sie mir dabei erschienen war. Oder wie mein Vater am Sonntag nach dem Mittagessen den restlichen Rinderbraten mit großer Präzision in hauchdünne rosa Scheiben geschnitten hatte.
Vor meinem geistigen Auge sah ich mich beschützt zwischen den beiden sitzen. Wie hatte aus dem vernünftigen kleinen Mädchen mit Zahnspange und Söckchen diese verängstigte Frau werden können, die hier auf dem Polizeirevier saß und um ihr Leben bangte? Ich wollte wieder dieses kleine Mädchen sein und mich von meinen Eltern beschützen lassen.
Die Beamtin, die mich nach hinten geführt hatte, erschien in Begleitung eines Mannes in mittlerem Alter, der keine Uniformjacke trug und die Hemdsärmel hochgekrempelt hatte. Sie wirkte wie eine Schulmädchen, das mit einem entnervten älteren Lehrer zurückkehrte.
Wahrscheinlich hatte sie im ganzen Revier nach jemandem Ausschau gehalten, der gerade nicht telefonierte oder mit dem Ausfüllen von Formularen beschäftigt war, und dieser Mann hatte sich bereit erklärt, für einen Moment auf den Gang zu kommen, wohl in der Absicht, mich möglichst schnell wieder loszuwerden. Der Mann schaute auf mich herab. Ich fragte mich, ob ich aufstehen sollte. Er sah ein bißchen aus wie mein Vater, und diese Ähnlichkeit trieb mir die Tränen in die Augen, die ich aber rasch wieder wegblinzelte. Ich mußte einen ruhigen Eindruck machen.
»Miss?«
»Loudon«, sagte ich. »Alice Loudon.«
»Wenn ich meine Kollegin richtig verstanden habe, möchten Sie eine Aussage machen.«
»Ja«, antwortete ich.
»Nämlich?«
Ich sah mich um.
»Sollen wir das hier auf dem Flur besprechen?«
Der Mann runzelte die Stirn.
»Es tut mir leid, meine Liebe, aber wir haben zur Zeit Platzprobleme. Sie müssen Nachsicht mit uns haben.«
»Also gut«, sagte ich und ballte die Hände im Schoß, damit er nicht sah, wie sie zitterten. Nachdem ich mich geräuspert hatte, bemühte ich mich, mit möglichst ruhiger Stimme zu sprechen.
»Eine Frau namens Tara Blanchard ist vor ein paar Wochen ermordet in einem Kanal aufgefunden worden.
Haben Sie davon gehört?« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß, wer sie getötet hat.«
Mit einer Handbewegung unterbrach mich der Beamte.
»Augenblick, meine Liebe! Am besten, ich suche Ihnen rasch das Revier heraus, das mit dem Fall betraut ist. Ich werde anrufen und Sie ankündigen. Dann können Sie dort mit den zuständigen Leuten reden. Einverstanden?«
»Nein. Ich bin hergekommen, weil ich in Gefahr bin.
Der Mörder von Tara Blanchard ist mein Mann.«
Ich rechnete mit irgendeiner Reaktion auf diese Äußerung, zumindest einem ungläubigen Lachen, aber es kam nichts.
»Ihr Mann?« fragte der Detective und wechselte einen Blick mit seiner Kollegin. »Und wieso glauben Sie das?«
»Ich glaube, daß
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