Höhenangst
und töten.
An diesem Abend wollte ich mir einen Vortrag über neue Erkenntnisse zum Thema Fruchtbarkeitsbehandlung und Eierstockkrebs anhören, zum einen, weil es entfernt mit meiner Arbeit zu tun hatte, zum anderen, weil der Vortrag von einem meiner Bekannten gehalten wurde, aber hauptsächlich, weil er mir die Möglichkeit bot, den Abend getrennt von Adam zu verbringen. Er würde draußen auf mich warten, und natürlich konnte ich ihn nicht davon abhalten, mich zu begleiten, wenn er wollte, aber selbst dann würden wir zur Abwechslung mal in meiner Welt sein, einer beruhigenden Welt der wissenschaftlichen Forschung und des Empirismus. Einer Welt, in der ich mich zumindest vorübergehend sicher fühlen konnte. Ich würde ihn nicht ansehen oder mit ihm reden müssen. Ich würde nicht gezwungen sein, mich von ihm auf die Matratze drücken zu lassen und vor gespielter Lust zu stöhnen.
Adam wartete nicht auf mich. Ich war vor Erleichterung fast euphorisch. Sofort fühlte ich mich leichtfüßiger und viel klarer im Kopf. Die ganze Welt sah gleich ganz anders aus, wenn er nicht vor der Tür stand und mich mit diesem durchdringenden, grüblerischen Blick anstarrte, den ich längst nicht mehr deuten konnte. Sprachen daraus Haß oder Liebe, Leidenschaft oder Mordabsichten? Bei Adam war beides immer eng miteinander verbunden gewesen, und wieder mußte ich an jene Nacht der Gewalt denken, die wir während unserer Hochzeitsreise im Lake District verbracht hatten. Es lief mir jedesmal kalt über den Rücken, wenn ich mich daran erinnerte.
Ich beschloß, zu Fuß zu gehen. Als ich nach etwa einer Viertelstunde um die letzte Ecke bog, sah ich Adam mit einem Strauß gelber Rosen vor dem Gebäude stehen, in dem der Vortrag gehalten werden sollte. Viele der vorübergehenden Frauen warfen ihm sehnsüchtige Blicke zu, aber er schien sie nicht zu bemerken. Er wartete auf mich, rechnete aber damit, daß ich aus der anderen Richtung kommen würde. Ich blieb stehen und drückte mich in den nächstbesten Hauseingang. Eine Welle der Übelkeit rollte über mich hinweg. Ich würde ihm nie entkommen, er war mir immer einen Schritt voraus.
Immer wartete er irgendwo auf mich, um mich zu berühren und an sich zu drücken. Adam würde mich nie gehen lassen. Er war zuviel für mich. Ich wartete, bis meine Panik etwas nachgelassen hatte. Dann drehte ich mich ganz langsam um, um ja nicht seine Aufmerksamkeit zu erregen, und ging eilig den Weg zurück, den ich gekommen war. Sobald ich außer Sichtweite war, hielt ich ein Taxi an.
»Wohin?«
Wohin? Wo konnte ich hin? Ich konnte nicht vor ihm weglaufen, weil ihm sonst sofort klargeworden wäre, daß ich Bescheid wußte. Mutlos zuckte ich mit den Schultern und bat den Fahrer, mich nach Hause zu bringen. In mein Gefängnis. Ich wußte, daß ich nicht so weitermachen konnte. Das Entsetzen, das mich bei Adams Anblick erfaßt hatte, war eindeutig eine körperliche Empfindung gewesen. Wie lange konnte ich noch so tun, als würde ich ihn lieben und vor Seligkeit dahinschmelzen, wenn er mich streichelte? Wie lange würde ich meine Angst noch unterdrücken können? Mein Körper revoltierte bereits.
Aber ich wußte keinen Ausweg.
Als ich die Wohnung betrat, klingelte das Telefon.
»Hallo.«
»Alice?« Es war Sylvie. Sie klang sehr aufgeregt. »Ich habe nicht damit gerechnet, daß du zu Hause sein würdest.«
»Warum hast du dann angerufen?«
»Eigentlich wollte ich mit Adam sprechen. Das Ganze ist mir ziemlich peinlich.«
Plötzlich war mir kalt und übel, als müßte ich mich gleich übergeben.
»Mit Adam?« fragte ich. »Worüber wolltest du mit Adam sprechen, Sylvie?«
Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen.
»Sylvie?«
»Ja. Hör zu, ich wollte es dir eigentlich nicht sagen, ich meine, Adam wollte selbst mit dir reden, aber nachdem ich dich nun schon mal an der Strippe habe …« Ich hörte, wie sie an ihrer Zigarette zog. Dann fuhr sie fort: »Ich weiß, daß du erst mal denken wirst, ich hätte dich verraten, aber irgendwann wirst du begreifen, daß es ein Akt der Freundschaft war. Ich habe deinen Brief gelesen.
Und dann habe ich ihn Adam gezeigt. Ich meine, er ist aus heiterem Himmel bei mir aufgetaucht, und ich wußte erst nicht, was ich tun sollte, aber dann habe ich ihm den Brief gezeigt, weil ich der Meinung bin, daß du gerade so eine Art Nervenzusammenbruch durchmachst, Alice. Was du geschrieben hast, ist verrückt, völlig verrückt. Du hast Wahnvorstellungen, das ist dir
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