Höhenangst
doch hoffentlich klar.
Natürlich, das muß dir klar sein. Jedenfalls wußte ich nicht, was ich tun sollte, und deswegen habe ich den Brief Adam gezeigt. Bist du noch dran, Alice? Hallo?«
»Du hast ihn Adam gezeigt.« Meine Stimme klang so ausdruckslos, daß ich sie selbst nicht wiedererkannte. Ich dachte angestrengt nach: Nun blieb mir keine Zeit mehr.
Meine Zeit war abgelaufen.
»Ja, er war wunderbar, absolut wunderbar. Natürlich war er verletzt, mein Gott, war er verletzt. Nachdem er den Brief gelesen hatte, weinte er und sagte immer wieder deinen Namen. Trotzdem ist er dir nicht böse, das mußt du mir glauben, Alice. Er macht sich bloß Sorgen, daß du eine Dummheit begehen könntest. Du weißt schon. Das war das letzte, was er zu mir gesagt hat. Er hat gesagt, er habe Angst, daß du dir in deinem Zustand etwas antun könntest.«
»Hast du eine Ahnung, was du da angerichtet hast?«
»Hör zu, Alice …«
Während Sylvie mit flehender Stimme weitersprach, legte ich einfach auf. Ein paar Sekunden blieb ich wie gelähmt stehen. Der Raum kam mir plötzlich sehr kalt und still vor. Ich hörte jedes noch so kleine Geräusch, das Ächzen einer Bodendiele, als ich mein Gewicht verlagerte, ein Murmeln in den Wasserrohren, das leise Seufzen des Windes draußen. Das war’s. Adam hatte bereits die Befürchtung geäußert, daß ich mir etwas antun könnte.
Niemand würde sich mehr wundern, wenn ich tot aufgefunden wurde. Ich stürzte ins Schlafzimmer und riß die Schublade auf, in der ich Adeles Brief und Adams gefälschte Nachricht an sich selbst versteckt hatte. Die Sachen waren verschwunden. Ich rannte zur Wohnungstür, aber unten auf der Treppe waren bereits seine Schritte zu hören.
Ich saß in der Falle. Unsere Wohnung lag im obersten Stockwerk. Suchend blickte ich mich um, obwohl ich genau wußte, daß es keinen anderen Ausgang und kein Versteck für mich gab. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich die Polizei anrufen sollte, aber ich würde nicht mal genug Zeit haben, um die Nummer zu wählen. Ich rannte ins Bad und drehte die Dusche voll auf, so daß das Wasser geräuschvoll auf den Fliesenboden platschte. Nachdem ich rasch den Duschvorhang zugezogen und die Badtür nur einen Spalt offengelassen hatte, raste ich zurück ins Wohnzimmer, griff nach meinem Schlüssel und flüchtete dann in die Küche, wo ich mich hinter die offene Tür stellte. Kein sehr gutes Versteck. Das Guy -Magazin lag in Reichweite meines Arms auf der Arbeitsplatte. Ich griff danach. Besser als gar nichts.
Er betrat die Wohnung und zog die Tür hinter sich zu.
Mein Herz klopfte so laut, daß ich fürchtete, er könne es hören. Plötzlich fielen mir die Blumen wieder ein.
Bestimmt würde er als erstes in die Küche kommen und sie ins Wasser stellen. O Gott, bitte, bitte, bitte nicht. Ich rang nach Luft, jeder Atemzug tat mir weh. Aus meiner Kehle drang ein leiser Schluchzer. Ich konnte nichts dagegen tun.
Dann aber legte sich meine Angst wie durch ein Wunder, und was blieb, war eine Art Neugier, als beobachtete ich meine ausweglose Situation von außen. Es heißt immer, Ertrinkende würden noch einmal ihr ganzes Leben an sich vorbeiziehen sehen, bevor sie starben.
Genauso ging es mir in den wenigen Sekunden, die ich in der Küche wartete: Mein Gehirn spulte all die Bilder aus der Zeit mit Adam noch einmal ab. Im Grunde eine so kurze Spanne, auch wenn sie alles Vorherige ausgelöscht hatte. Ich sah zu, als würde ich mein eigenes Leben im Kino betrachten: unseren ersten Blick quer über eine verkehrsreiche Straße, unsere erste sexuelle Begegnung, deren Fieberhaftigkeit mir inzwischen fast komisch erschien, unseren Hochzeitstag, an dem ich vor Glück am liebsten gestorben wäre. Dann sah ich Adam mit erhobener Hand. Adam mit einem Gürtel in der Hand.
Adam, wie er die Hände um meinen Hals legte. Die Bilder führten alle zum jetzigen Moment: dem Moment, in dem ich sehen würde, wie Adam mich umbrachte. Aber ich hatte keine Angst mehr. Ich empfand fast so etwas wie Frieden. Es war so lange her, seit ich zum letztenmal dieses Gefühl gespürt hatte.
Ich hörte ihn durchs Zimmer gehen. An der Küche vorbei. In Richtung Bad, auf die laufende Dusche zu. Ich nahm unseren neuen Wohnungsschlüssel zwischen Daumen und Zeigefinger und spannte alle meine Muskeln an, bereit loszurennen.
»Alice!« rief er. »Alice!«
Jetzt. Ich sprintete aus der Küche in die Diele hinaus und riß die Wohnungstür auf.
»Alice!«
Er kam auf mich zu,
Weitere Kostenlose Bücher