Höhenangst
Alice. Wir wollen doch nur dein Bestes.«
Ich sah Adam an. Sein Gesichtsausdruck wirkte sanft, fast liebevoll.
»Alice, mein Liebling«, war alles, was er sagte.
Byrne schien sich ziemlich unwohl zu fühlen.
»Es klingt alles ein bißchen weit hergeholt, aber …«
»Es handelt sich um einen Notfall«, erklärte Deborah entschieden. »Sie braucht dringend psychiatrische Betreuung. Bis wir einen Platz in einer Klinik gefunden haben, beantrage ich, Alice Loudon in die Obhut ihres Mannes zu übergeben.«
Adam streckte die Hand aus und berührte zärtlich meine Wange. »Liebste Alice«, sagte er. Ich blickte zu ihm auf.
Seine blauen Augen leuchteten wie der Himmel. Sein langes Haar wirkte vom Wind zerzaust. Sein Mund war leicht geöffnet, als wollte er etwas sagen oder mich küssen. Ich faßte an meinen Hals und berührte die Halskette, die er mir vor langer Zeit geschenkt hatte, in den ersten Tagen unserer Liebe. Es war, als gebe es im Raum nur noch mich und ihn. Alles andere um uns herum verschwamm. Vielleicht hatte ich mich geirrt. Plötzlich konnte ich kaum mehr der Versuchung widerstehen, mich einfach diesen zwei Menschen zu überlassen. Sie würden sich um mich kümmern. Menschen, die mich wirklich liebten.
»Es tut mir leid«, hörte ich mich mit schwacher Stimme sagen.
Adam beugte sich zu mir herunter und nahm mich in den Arm. Ich konnte seinen Schweiß riechen und seine rauhe Wange auf meiner Haut spüren.
»Liebe ist schon etwas Seltsames«, sagte ich. »Wie kann man jemanden umbringen, den man liebt?«
»Alice, mein Liebling«, flüsterte er leise in mein Ohr, während er mir mit der Hand übers Haar strich. »Habe ich nicht versprochen, daß ich immer auf dich aufpassen werde? Immer und ewig?«
Es war ein wundervolles Gefühl, von ihm im Arm gehalten zu werden. Immer und ewig. So hatte ich mir das anfangs auch vorgestellt. Vielleicht konnte es wieder so werden. Vielleicht konnten wir die Uhr zurückdrehen und so tun, als hätte er nie jemanden umgebracht. Als wüßte ich nichts davon. Ich spürte, wie mir die Tränen über die Wangen liefen. Ein Versprechen, immer und ewig auf mich aufzupassen. Ein Moment und ein Versprechen. Wo hatte ich diese Worte schon gehört? Es steckte irgendwo in meinem Hinterkopf, verschwommen und undeutlich, aber plötzlich nahm es Gestalt an, und ich sah es ganz klar vor mir. Ich löste mich aus Adams Armen, trat einen Schritt zurück und sah ihm direkt ins Gesicht.
»Jetzt weiß ich es«, erklärte ich.
Adam, Deborah und Byrne starrten mich verwirrt an.
Wahrscheinlich hielten sie mich jetzt endgültig für übergeschnappt, aber das war mir egal. Ich hatte mich wieder unter Kontrolle, mein Kopf war wieder klar. Nicht ich war verrückt.
»Ich weiß, was Adam mit ihr gemacht hat. Ich weiß, wo Adam Adele Blanchard begraben hat.«
»Wie meinen Sie das?« fragte Byrne.
Ich sah Adam an, der meinen Blick erwiderte, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich zog meine Geldbörse aus der Manteltasche, öffnete sie und nahm eine Monatskarte, ein paar Quittungen und ein paar ausländische Geldscheine heraus. Dann hatte ich gefunden, was ich suchte: die Aufnahme, die Adam in dem Moment von mir gemacht hatte, als er mich gefragt hatte, ob ich seine Frau werden wolle. Ich reichte das Foto Byrne, der es mit verwirrtem Gesichtsausdruck betrachtete.
»Geben Sie gut darauf acht«, sagte ich. »Es ist das einzige existierende Exemplar. An dieser Stelle ist Adele begraben.«
Ich blickte mich zu Adam um. Nicht einmal jetzt wandte er den Blick ab, aber ich wußte, daß seine Gedanken rasten. Darin war er genial: in Krisensituationen über mögliche Problemlösungen nachzudenken. Was ging gerade in seinem schönen Kopf vor?
Byrne wandte sich von mir ab und zeigte Adam das Bild.
»Was ist das?« fragt er. »Wo ist das Foto aufgenommen?«
Adam spielte den Verdutzten und lächelte Byrne an.
»Ich weiß es nicht mehr genau«, sagt er. »Wir haben irgendwo einen Spaziergang gemacht.«
In dem Augenblick wußte ich, daß ich recht hatte.
»Nein«, widersprach ich. »Es war nicht bloß irgendein Spaziergang. Adam hat mich ganz bewußt an diese Stelle geführt. Er hat mir erzählt, er sei früher schon einmal dort gewesen. Genau an dieser Stelle wollte er mich fragen, ob ich seine Frau werden wolle. Ein Moment und ein Versprechen. Als wir uns gegenseitig die Treue schworen, standen wir über der Leiche von Adele Blanchard.«
»Adele Blanchard?« fragte Adam. »Wer ist das?« Er musterte mich
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