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Höhenangst

Titel: Höhenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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eindringlich. Offenbar versuchte er abzuschätzen, wieviel ich wußte. »Das ist doch verrückt!
    Ich habe längst vergessen, wo wir bei diesem Spaziergang genau gelandet sind. Du doch bestimmt auch, Liebling. Du hast es sicher auch vergessen. Während der Hinfahrt hast du die ganze Zeit geschlafen. Du weißt bestimmt nicht mehr, wo die Stelle ist.«
    Mit plötzlichem Entsetzen blickte ich auf das Foto hinunter. Er hatte recht. Ich wußte es nicht. Ich starrte auf das Gras, das so grün und verführerisch nah wirkte und doch so weit entfernt war. Adele, wo bist du? Wo ist dein verratener, getöteter, vermißter Körper? Da fiel es mir wieder ein. Ich wußte es. Und wie ich es wußte!
    »St. Eadmund’s«, sagte ich.
    »Was?« fragten Byrne und Adam gleichzeitig.
    »St. Eadmund’s mit a. Adele Blanchard hat an der St.-
    Eadmund’s-Grundschule unterrichtet. Das ist in der Nähe von Corrick. Dort gibt es auch eine Kirche, die St.
    Eadmund’s heißt. Bringt mich zu dieser Kirche, und ich führe euch zu der Stelle, wo Adele begraben liegt.«
    Byrnes Blick wanderte von mir zu Adam und wieder zurück. Er wußte nicht, was er tun sollte. Ich trat einen Schritt auf Adam zu, so daß sich unsere Gesichter fast berührten, und sah in seine klaren blauen Augen. Ich konnte in diesen Augen keine Spur von Unruhe entdecken.
    Er war einfach großartig. Vielleicht hatte ich in diesem Moment zum erstenmal eine Vorstellung davon, wie dieser Mann auf einem Berg war, wenn er ein Leben rettete oder vernichtete. Ich hob die rechte Hand und berührte seine Wange, wie er vorher die meine berührt hatte. Er zuckte ganz leicht zurück. Ich mußte etwas zu ihm sagen. Was auch passierte, ich würde nie wieder Gelegenheit dazu haben.
    »Mir ist klar, daß du Adele und Françoise getötet hast, weil du sie auf irgendeine schreckliche Art geliebt hast.
    Und ich nehme an, daß Tara dich bedroht hat. Hatte ihre Schwester ihr etwas erzählt? Wußte sie Bescheid? Oder hatte sie nur einen Verdacht? Aber was ist mit den anderen? Pete. Carrie. Tomas. Alexis. Als du ein weiteres Mal den Berg hinauf bist, hast du Françoise da eigenhändig in den Abgrund gestoßen? Hat dich jemand dabei beobachtet? Ist dir das alles einfach gelegen gekommen?« Ich wartete. Er gab mir keine Antwort. »Du wirst es mir nie sagen, stimmt’s? Du würdest einer Normalsterblichen wie mir diesen Triumph niemals gönnen.«
    »Das ist doch lächerlich!« sagte Adam. »Alice braucht Hilfe. Ich kann die gesetzliche Vormundschaft für sie übernehmen.«
    »Sie können meine Aussage nicht einfach ignorieren«, sagte ich zu Byrne. »Ich habe Sie darüber informiert, daß an dieser Stelle eine Leiche liegt. Sie sind verpflichtet, der Sache nachzugehen.«
    Byrne sah von einem zum anderen. Dann entspannte sich sein Gesicht zu einem sardonischen Lächeln. Er seufzte.
    »Also gut«, sagte er. Dann blickte er zu Adam hinüber.
    »Machen Sie sich keine Sorgen, Sir. Wir werden gut auf Ihre Frau aufpassen.«
    »Lebwohl«, sagte ich zu Adam. »Lebwohl, Adam.«
    Er lächelte mich so lieb an, daß er plötzlich wie ein kleiner Junge aussah, ein kleiner Junge voll furchterregender Hoffnung. Aber er sagte nichts, sondern folgte mir nur mit seinem Blick, als ich ging. Ich drehte mich nicht um.

    39. KAPITEL
    Police Constable Mayer sah aus wie sechzehn. Sie hatte ein rundes, leicht pickeliges Gesicht und braunes Haar, das sie zu einem Pagenkopf geschnitten trug. Ich saß auf dem Rücksitz – wir fuhren mit einem einfachen blauen Wagen, nicht mit einem Polizeiauto, wie ich erwartet hatte – und starrte auf ihren kräftigen Nacken über dem steifen weißen Kragen. Auf mich wirkte ihr Nacken so, als würde sie dieses ganze Unterfangen mißbilligen. Ihr schlaffer Händedruck und ihr hastiger, ausdrucksloser Blick waren mir sehr desinteressiert erschienen.
    Sie machte auch nicht den Versuch, sich mit mir zu unterhalten, sondern beschränkte sich darauf, mich vor Beginn unserer Fahrt aufzufordern, den Sicherheitsgurt anzulegen. Ich war ihr dankbar für ihr Schweigen. Gegen den kühlen Kunststoff gelehnt, starrte ich auf den Londoner Verkehr hinaus, ohne viel wahrzunehmen. Es war ein schöner Morgen, und das helle Licht verursachte mir Kopfschmerzen, aber wenn ich die Augen schloß, war es nicht besser, denn dann zog vor meinem geistigen Auge ein Bild nach dem anderen vorüber. Vor allem natürlich Adams Gesicht, mein letztes Bild von ihm. Mein ganzer Körper fühlte sich wund und leer an. Es war, als

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